ZEITSPIEL weekly

11.7.2023

Warum gewinnt mein Verein verdammt noch mal keinen Titel?

(Eine organisations-soziologische Annäherung)


Von Axel Gundolf


Es gibt einen guten Grund, warum die Überschrift dieses Textes ganz verschämt von "meinem Verein” spricht, ohne den Verein zu nennen. Denn mein Verein, das ist Bayer 04 Leverkusen. Dieses Geständnis macht einen nicht unbedingt populär. Aber keine Sorge: Es soll hier nicht um die Leiden eines Kommerzvereins-Fans gehen. Wobei Bayer Leverkusen eigentlich der “Original Gangster” unter den heute in der ersten Bundesliga so zahlreichen Plastik-Clubs ist. In diesem Sinne also dann doch so was wie eine Traditionsmannschaft, oder? Nein? Ach, lassen wir das.


In diesem Text geht es ohnehin um etwas anderes, nämlich darum, dass man vieles im modernen Fußball mit den sehr theoretischen Überlegungen eines Soziologen erklären kann, der schon seit einem Vierteljahrhundert tot ist. Und dafür ist Bayer Leverkusen ein wunderbares Beispiel, aber der Gedanke lässt sich genauso auf Bayern München, Borussia Dortmund oder Eintracht Frankfurt anwenden.


Ich bin im Jahr 1979 in der Bayer-Stadt geboren, dem Jahr des Aufstiegs von Leverkusen in die erste Bundesliga. Damit ist Leverkusen übrigens nach München und Dortmund der Verein, der am längsten durchgängig in Deutschlands höchster Spielklasse dabei ist (Was ihn immer noch nicht zu einem Traditionsverein macht, ich weiß, ich weiß). Weil ich so alt bin, kann ich mich noch gut an alle Titelgewinne von Bayer Leverkusen erinnern. Also alle beide.


1988 UEFA-Cup, 1993 DFB-Pokal, seitdem: nix. Null. Nada. Den einzigen Titel, den sich die Mannschaft in diesen 30 Jahren gesichert hat, den per Definition aber auch niemand anders gewinnen konnte, ist “Vizekusen”. Der ist in der gleichen Kategorie wie “Meister der Herzen”, also ein Titel, den man nicht feiert. Wie kann das sein? Eine Mannschaft in den Top 10 der ewigen Bundesligatabelle, immer wieder international unterwegs, gerne auch hier und da mal in einem Halbfinale oder sogar im Finale (2002! Glasgow! DAS Tor von Zidane!) - aber kein einziger Titel?


Und hier kommt die Soziologie ins Spiel, und zwar in Gestalt von Niklas Luhmann und seiner Systemtheorie. Niklas Luhmann hat viele Jahre lang, vor allem in den 70er und 80er Jahren, an der Universität Bielefeld gelehrt. Ob er Fan der Arminia war, ist mir nicht bekannt. Es würde mich wundern, denn Luhmann war ein totaler Nerd, lange bevor Nerds irgendwie cool wurden. Bekannt ist Luhmann auch eher nicht für seine Athletik, dafür umso mehr für seine legendären Zettelkästen. Mir ist Luhmann mit seiner Systemtheorie zum ersten Mal im Studium begegnet, aber verstanden habe ich ihn erst über meine Arbeit als Organisationsentwickler. Und dadurch wurde mir auf einmal auch klar, warum mein Heimatverein seit drei Jahrzehnten keinen Titel gewonnen hat und warum sich das so schnell auch nicht ändern wird.


Diese Einsicht ist mir gekommen, als ich aufgehört habe, Fußballvereine als mystische Kultobjekte zu betrachten, sondern als Organisationen wie jede andere auch. Der Vorteil: Organisationen kann man systemtheoretisch analysieren.


Achtung, ganz kurzer Theorie-Exkurs: Zwei ganz elementare Eigenschaften von Systemen nach Luhmann bestehen darin, dass sie erstens nicht aus Menschen bestehen, sondern aus Kommunikation. Und zweitens entstehen Systeme aus sich selbst heraus und streben auch danach, sich selbst möglichst zu erhalten. Klingt erstmal alles sehr abstrakt und irgendwie komisch, aber wird hoffentlich klarer, wenn wir uns wieder das geplagte Bayer Leverkusen vornehmen.

Gerade bei Fußballvereinen ist der Gedanke, dass sie - systemtheoretisch betrachtet - gar nicht aus Menschen bestehen, ziemlich gewöhnungsbedürftig. Messi und Ronaldo, Guardiola und Ancelotti sollen auf einmal keine Rolle mehr spielen?


Wir sind es gewohnt, Fußball über Personenkult zu erleben. Wir bejubeln brillante Spieler und geniale Trainer. Soziale Systeme sind rein emotional betrachtet eher unsexy. Aber wenn wir diese Distanz einnehmen, können wir erkennen: Real Madrid ist auch ohne Cristiano Ronaldo noch Real Madrid, und auch ohne Zinedine Zidane, Raúl oder Sergio Ramos. Bayern München ist auch ohne Beckenbauer noch Bayern München, und auch mit, ohne und wieder mit Uli Hoeneß. Tja, und Bayer Leverkusen ist und bleibt: titelfrei. Egal, ob da Rudi Völler, Michael Ballack oder Kai Havertz spielen. Das System ist immer stärker als die Einzelpersonen. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Deutsche Bahn unpünktlich bleibt, auch wenn der Vorstandschef ausgewechselt wird.

Das bringt uns zur zweiten wichtigen Eigenschaft von sozialen Systemen: Sie entstehen aus sich heraus, streben nach Selbsterhaltung - und sind deswegen ganz schwer zu verändern. Es ist eine Illusion, dass Manager einfach nur das “Richtige” tun müssen, damit dann das richtige Ergebnis entsteht. Auch in Leverkusen hat ja keiner bewusst entschieden, dass man auf Titel gerne verzichtet. Und niemand wird dem Management des Vereins schlechte Arbeit attestieren wollen. Über die Jahre und Jahrzehnte kann man im Verein aber die immer gleichen Muster erkennen. Das kennt doch auch jeder Fan von seinem Verein, diesen Gedanken “Ach nee, nicht schon wieder”. Systemtheoretisch ist es zum Beispiel gar nicht so verblüffend, dass der HSV über Jahre auf geradezu groteske Weise den Wiederaufstieg in die erste Liga zu verweigern scheint.


In Leverkusen gehen die Muster so: Ein gutes Händchen für aufstrebende Top-Talente wie aktuell Florian Wirtz oder zuletzt Kai Havertz. Auch Toni Kroos und Daniel Carvajal hatten mal das Bayer-Trikot am Leib. Den Mut, smarte Trainer relativ am Anfang ihrer Karriere zum Verein zu holen (Schmidt, Bosz, Seoane und aktuell Xabi Alonso), die meistens super einschlagen und dann schnell einbrechen und wieder weg sind. Es gelingt sogar immer wieder, mit Identifikationsfiguren wie Ulf Kirsten, Bernd Schneider oder den Bender-Brüdern den Fans emotionale Bindungen zu ermöglichen.


Aber warum gehört zu diesen Mustern eben auch die notorische Titellosigkeit, während RB Leipzig zuletzt gleich zwei Mal den DFB-Pokal in den Berliner Nachthimmel stemmen durfte? Als Leverkusen-Fan bin ich grün vor Neid, als Organisationstheoretiker weiß ich: Es liegt an der Unternehmenskultur. Und das ist letztlich auch nur ein anderes Wort für das System. Wer die Philosophie des Red-Bull-Konzerns kennt, weiß, dass man in Salzburg grundsätzlich nach dem Motto operiert: “Was wir wollen, das passiert auch.” Wir wollen, dass ein Mann per Kopfsprung aus dem Weltraum zur Erde springt? Dann kommt das auch so. Wir wollen, dass Sebastian Vettel mit seinem Rennwagen über die Straße des 17. Juli brettern darf? So soll es geschehen. Wir wollen einen Verein in der Deutschen Bundesliga besitzen, obwohl das eigentlich verboten ist? Let’s do it. Aus so einem System purzeln dann eben auch Titel raus.


Warum ist dieser systemtheoretische Blick mehr als Berater-Quatsch (oder der verzweifelte Versuch eines Fans, sich das Scheitern des eigenen Vereins irgendwie zu erklären)? Ganz einfach: gerade weil dieser distanzierte Blick im Fußball so ungewohnt ist. Fußball ist Emotion. Wir wollen glauben, dass Starspieler magische Kräfte haben. Aber Manchester City hätte die Champions League wahrscheinlich auch ohne Erling Haaland gewonnen. Wir sind überzeugt vom heilbringenden Trainerwechsel. Vielleicht sollten wir das aber besser mal bei einem Weißbier mit Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić besprechen. Wir glauben, dass Stadien mythische Orte sind. Auch wenn es in Wembley seit 2007 ganz anders aussieht als 1966.


Das alles ist auch gut so, denn ohne diese Gefühle wäre der Fußball für Fans nicht das, was er ist. Aber gerade für Verantwortliche, Manager, Trainer und auch Spieler ist es wichtig, diese Systemlogik zu erkennen und zu verstehen. Das ist leider deutlich komplexer als Personenkult und Aberglaube. Und es ist im Fußball-Business besonders schwierig, weil die hohe Emotionalität und die öffentliche Aufmerksamkeit für enorm viel Druck und Ablenkung sorgen. 

Wer ein System nachhaltig verändern will, braucht aber das Bewusstsein für diese Komplexität, für die Selbsterhaltungskräfte des Systems, für die Muster, die personenunabhängig existieren. Und er braucht Zeit, die ihm oftmals nicht zugestanden wird. Die größte Herausforderung für Fußball-Manager ist aber, dass sie selbst Teil des Systems sind. Daher sind sie im Normalfall oft gar nicht an echter Veränderung interessiert, sondern eben auch primär an Selbsterhaltung, das berühmte “Kleben am Stuhl”.


Glaube ich, dass es bei Bayer 04 Leverkusen so eine Veränderung geben wird? Mein Organisationstheoretiker-Gehirn sagt: eher nein. Aber mein Fan-Herz - das hofft weiter. Ich muss einfach nur immer mein Glückstrikot tragen.



Axel Gundolf ist Organisationsberater und Trainer. Mehr Informationen und weitere Inhalte findet man auf www.elementar-institut.de.

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