Bienvenue en Banlieue Rouge
Ein Jahr mit dem Red Star FC
Ein Jahr als Austauschstudent in Paris. Louvre! Eiffelturm! Haute Coiture! Schicke Cafés! Rotwein! Den Rotwein hat Christoph Heshmatpour auch genommen. Alles andere hat er eingetauscht gegen die graue Vorstadt St. Ouen, das marode Stade Bauer und den traditionsreichen, aber chronisch erfolglosen Fußball-Klub Red Star. Er hat sich mit französischer Bürokratie herumgeschlagen, ist in Kneipen abgestürzt, philosophierte über Politik und Fußball. Ein Jahr im Herzen von Paris, abseits von Louvre, Eiffelturm und Haute Coiture, dafür aber mitten in der Liebe zum Fußball.
Vorwort
Liebe*r Leser*in,
dies ist die Geschichte des Studienjahres 2011/12, das ich als Austauschstudent an der Université Paris III Sorbonne Nouvelle verbracht habe. Während dieses Jahres habe ich eine obsessive Leidenschaft für den Red Star FC entwickelt, den Fußballclub des Stadtviertels, in dem ich wohnte.
Alte Texte sind wie Fotos: Du veränderst dich, wirst älter, die Welt um dich herum entwickelt sich weiter, doch sie bleiben gleich. Und je weiter du dich zeitlich von ihnen entfernst, desto fremder wirken sie auf dich selbst. Der Unterschied zum alten Foto ist allerdings: Wir können Texte verändern und aus ihnen neue machen. Dies ist eine überarbeitete Version des selbstgebastelten E-Books, das ich im Frühling 2013 auf meiner Website im Internet veröffentlicht habe. Ich habe einige Passagen überarbeitet, Fehler behoben und gleichzeitig versucht, den Zeitdokumentcharakter zu bewahren.
Denn eine meiner Motivationen war es damals, auf den Kampf der Fans von Red Star um ihr geliebtes Stadion hinzuweisen, und nun ist es tatsächlich passiert: Das Stade Bauer ist nicht mehr. Der Immobilienentwickler Réalités hat das Grundstück erworben. Die mehr als 110 Jahre alten Tribünen werden ab 2022 stufenweise abgerissen. und an derselben Stelle soll der Bauer District errichtet werden. Rund um den Fußballplatz entstehen neben neuen Tribünen auch Büros, Restaurants und Event-Locations. Im Marketingsprech von Réalités ist es „ein neuer Ort der Erfahrungen, der Sport und urbane Kultur verbindet“. Die auf der Website veröffentlichten Renderings zeigen, was damit gemeint ist: verglaste Stahlbetonbauten und Coworking-Büros mit Spielfeldblick.
Es ist nicht die schlechteste aller Lösungen: Seit fast 30 Jahren haben Politik, Vereinsfunktionäre und Fans um die Zukunft des baufälligen Stadions und damit des Red Star FC gerungen. Immer wieder stand auch ein Umzug des Vereins an einen anderen Ort im Raum. Die Politik hätte das Grundstück in ausgezeichneter Lage im Norden von Paris gerne zu Geld gemacht. Die Vereinsführung träumt seit mehr als zehn Jahren davon, aus diesem kleinen Stadtteilklub so etwas wie den französischen FC St. Pauli zu machen, und will dafür die entsprechende Infrastruktur schaffen. Die Fans sind so, wie Fußballfans nun mal sind, betrachten das Kommerzialisierungsstreben des Vereinspräsidenten mit Skepsis und wollen das historische Erbe bewahren.
Mittlerweile hat es in der Person des Sozialdemokraten Karim Bouamrane ein Fan von der Tribüne ins Rathaus von Saint-Ouen geschafft. Unter ihm als Bürgermeister hat die Gemeinde das Grundstück, auf dem das Stadion steht, im Mai 2021 um mehr als 26 Millionen Euro an Réalités verkauft. Der Käufer hat sich vertraglich dazu verpflichtet, an derselben Stelle ein neues Stadion mit 15.000 Plätzen zu errichten, in dem Red Star auch eines Tages Spiele in der Ligue 1 abhalten könnte.
Die Bouamrane-Connection hat nicht verhindert, dass bei diametral gegenüberstehenden Interessen alte und neue Konflikte aufbrechen. Das Fan-Kollektiv von Red Star hat das Steuergremium zum Stadionbau nach einigen Wochen unter Protest verlassen. Die Gründe: Die als neuer Fanblock gewählte Hintertortribüne soll nur 1.200 Plätze haben und wird deshalb bei größeren Spielen nicht allen Red-Star-Fans Platz bieten. Dafür soll direkt über den Fans die verglaste Front eines Restaurants des Bauer Districts entstehen. Und die alte, von englischer Jahrhundertwende-Fußballarchitektur inspirierte Haupttribüne wird nicht renoviert, sondern vollständig abgerissen und neu errichtet.
In seiner Stellungnahme vermutet das Kollektiv, dass es den Beteiligten nicht wichtig sei, wie angekündigt den Charakter des Stadions zu bewahren, sondern sie schlicht zu niedrigsten Kosten eine Zuschauer*innentribüne errichten und so ihre Vertragspflichten mit geringstmöglichem Aufwand erfüllen wollten.
Wer hätte das ahnen können.
Kommerz, Konflikte, Intrigen, Größenwahn: Wer sich tiefer in die Geschichte und das Ringen um das Stade Bauer einlesen will, für den hat der größte deutschsprachige Red-Star-Experte Joachim Henn auf den kommenden Seiten im Vorwort die Ereignisse seit der Jahrtausendwende aufgedröselt.
Liebe Grüße
Christoph Heshmatpour, im Sommer 2022
Der Autor kann unter [email protected] kontaktiert werden
Colmar - Red Star 0:1
Als ich in der Pubertät war, wurde noch nicht Halloween gefeiert. Es war etwas, das ich aus amerikanischen Filmen und der alljährlichen Simpsons-Halloweenfolge kannte, das mir aber herzlich egal war. Nun, Halloween ist irgendwann im neuen Jahrtausend auch nach Europa herübergeschwappt, und die Franzosen finden das besonders toll. Die ganze Stadt ist bevölkert von weiß geschminkten Vampiren. Ich stehe im Halbdunkel einer mit Zombies und Hexen bevölkerten Party-WG, in der rechten Hand ein mit Wodka und Multivitaminsaft gefüllter Plastikbecher, denn es gibt keinen Orangensaft mehr. Mit der Schulter lehne ich an der Wand. Es ist laut, es wird geraucht. Vor mir steht ein gelocktes Mädchen – ins Gesicht hat sie sich etwas gemalt, das vielleicht einen Zombie-Hautfetzen darstellen soll. Sie fragt mich, woher ich käme, wieso ich ausgerechnet Französisch studierte und wie ich Frankreich so fände, die üblichen Sachen. Hinter ihrem Rücken erkenne ich, wie der Pumuckl auf uns zu taumelt. „Gibt’s noch was zu trinken außer Wodka und Multivitaminsaft?“, fragt er. Sein Blick fällt auf das Mädchen mit dem Hautfetzen im Gesicht: „Oh, guten Abend. Ich bin der Pumuckl, und wer bist du?“ Sie erzählt ihm die Geschichte, die sie schon mir erzählt hat, dass sie Émilie Moreau heiße, aus Lagny-sur-Marne circa zwanzig S-Bahn-Minuten von Paris komme und dort Volksschullehrerin sei. „Du heißt wirklich Émilie Moreau? Und du bist auch noch Volksschullehrerin? Aus Lagny-sur-Marne? Die Durchschnittsfranzösin! Wirst du einmal 1,8 Kinder bekommen?“ Der Pumuckl lacht. Émilie schaut betreten, entschuldigt sich schnell, dass sie sich etwas Neues zu trinken holen müsse oder auf die Toilette, so genau bekommen wir das gar nicht mehr mit. Der Pumuckl klopft mir auf die Schulter. „Da lässt man den Österreicher eine Minute alleine und schon schleppt er die durchschnittlichste Französin der Welt an“, meint er. „Émilie. Moreau, Volksschullehrerin. Aus Lagny-sur-Marne.“ Ich erwidere, dass ich mich ja nicht auskennen würde, ich wüsste weder, dass Émilie Moreau so ein Allerweltsname, noch, dass Lagny-sur-Marne so etwas wie das Stadt gewordene Durchschnittsfrankreich sei. Dafür hätte ich ihre Telefonnummer. Und ich würde mich mit ihr treffen. In Lagny-sur-Marne, warum nicht? Ich will ja auch ein bisschen vom Pariser Umland kennenlernen.
Drei Tage später nehme ich also am Gare de l’Est die Schnellbahn Richtung Lagny-sur-Marne. Dort will ich mit Émilie „Intouchables“ im Kino anschauen. Das ist der französische Super-Blockbuster der Stunde, es geht um einen alten Millionär im Rollstuhl, der von seinem schwarzen bitterarmen Pfleger eine Lektion in Lebensfreude erteilt bekommt, während er dem etwas grobschlächtigen Jüngling Manieren beibringt. Ein schwer reaktionäres Werk, wie ich finde. Der schwarze Mann ist arm und ungehobelt, aber lebensfroh, und der weiße Mann ist reich, aber freudlos. So bringen die beiden einander etwas bei. Was für ein ekelhaftes und rassistisches Szenario. Émilie hat den Film natürlich ganz toll gefunden, wie es sich für eine Durchschnittsfranzösin gehört.
Nach dem Kinobesuch essen wir durchschnittliches Sushi im einzigen Sushi-Restaurant von Lagny-sur-Marne und Émilie fragt mich, ob ich sie nicht noch zu ihr begleiten wolle? Gerne, sag ich, so spazieren wir die Marne entlang zu ihr, setzen uns auf die Couch und trinken noch ein Bier. Émilie mag mich. Wir sprechen über Belangloses. Hast du Geschwister? Wie ist Wien? Es ist der Moment, in dem einer von uns beiden die Initiative ergreifen und den anderen küssen muss, um das verlegene Blabla zu beenden. Schließlich fragt mich Émilie beiläufig: „Was machst du eigentlich am Wochenende?“ – „Ach, da fahr ich mit Red Star auswärts nach Colmar. Kennst du Red Star? Das ist ein Fußballklub, der spielt in der dritten Liga. Da geh ich jede Woche hin, ich hab sogar eine Dauerkarte.“
Die Heimfahrt mit dem letzten Zug nach Paris ist lang und einsam. Ich kenne den Blick in Émilies Augen. „Freak“, hat sie sich gedacht. „Hilfe, ich hab mir einen Fußballfan mit nach Hause genommen! Ich hab gewusst, mit dem Typen stimmt was nicht. Wie werde ich den wieder los?“ Ein bisschen führt sie noch Smalltalk, dann lässt sie mich wissen, dass sie morgen früh arbeiten müsse, sie habe ja eine Arbeit im Gegensatz zu mir, und wirft mich mit ein paar tröstenden Worten aus der Wohnung. Bis bald!
Im letzten Zug nach Paris sitze ich allein mit ein paar randalierenden Teenagern. Natürlich sind sie alle schwarz. Gerade habe ich mich so über die Darstellung des schwarzen Mannes im französischen Film geärgert, und dann das. Können diese Buben nicht aufhören mit dieser Klischeepflegerei? So werden sie es nie aus dem Ghetto schaffen. Am Gare de l’Est werden die Burschen bereits von der Polizei erwartet. Mich lassen die Beamten ungehindert passieren und zur U-Bahn gehen.
Immerhin, wenn die Frauenwelt nichts von mir wissen will, habe ich Zeit, mich ausgiebig dem Red Star FC zu widmen. Wozu braucht man eine Frau, wenn man mit fünf wildfremden Fußballfans ein Wochenende in einem kleinen, dreckigen Peugeot verbringen kann? Wie verabredet treffe ich die Toupetfrisur um zehn Uhr auf dem Stadionvorplatz. Dabei sind auch der kleine Tunesier, der Alte, der Red Star noch in der ersten Liga spielen gesehen hat und deshalb selbst eine Art Legende ist, und der Rennfahrer, der Besitzer des Peugeots. Der Rennfahrer spricht kaum, er sagt nur „Ja“ und „Nein“, dafür fährt er unglaublich schnell Auto. „Mit dem Rennfahrer sind wir in ein paar Stunden in Colmar, du wirst sehen, er fährt wie ein Formel-1-Pilot“, sagt die Toupetfrisur. Tatsächlich brauchen wir nur vier Stunden ins Elsass, und das auf rumpeligen Landstraßen, weil der Rennfahrer zu geizig ist für die Autobahnmaut. Er heizt lieber mit Lichtgeschwindigkeit durch französische Landschaften. Ich muss mir die Todesangst mit Bier aus dem Körper schwemmen.
Auswärts fahren ist vor allem eines. Fahren: Für zwei Stunden Fußball reist man stunden- oder gar tagelang herum. Die Beine tun vom langen Sitzen weh und das Bier schütte ich mir aus reiner Routine in den Mund, schmecken tut es nicht. Es ist sowieso nicht ratsam, während der Fahrt allzu viel zu trinken, denn ständige Pinkelpausen verlängern die Reise nur unnötig. Bist du einmal angekommen, siehst du von der Stadt nicht viel. Colmar ist hässlich, denke ich mir, Einkaufszentren und Reihenhaussiedlungen, mehr ist da nicht. Später werden mir Menschen erzählen, dass Colmar eigentlich eine sehr hübsche Stadt sei. Das Zentrum soll außerordentlich malerisch sein, eine typische elsässische Kleinstadt halt. Davon habe ich bei meinem Aufenthalt nichts mitbekommen. Aber wie denn auch, wenn man nur den Weg von der Ortseinfahrt zum Stadion sieht?
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Den Red-Star-Auswärtsfans wird vom Verein stets ein Kartenkontingent von zwanzig Plätzen zur Verfügung gestellt. Da wir diesmal nur zu fünft sind, hätten wir sogar fünfzehn Elsässer von der Straße auflesen und einladen können. Im Stadion treffen wir auch den Deutschen, einen Stuttgarter Anfang vierzig, der Anfang der 1990er-Jahre einige Zeit in Paris verbracht hat und mit Haut und Haar Red Star verfallen ist. Er ist im Prinzip ich mit zwanzig Jahren Vorsprung.
Wir platzieren uns hinter einem Tor, montieren das in die Jahre gekommene, zerschlissene Red-Star-Transparent an den Zaun und bestellen den ersten Glühwein. Den Beginn verfolgen wir eher schweigend, trinkend. Es sind 25 Minuten gespielt, da sieht Red-Star-Verteidiger Jérémy Abadie die Rote Karte. Ein Dutzendfoul, meiner Meinung nach, sicher nicht rotwürdig, wir sagen dem Schiedsrichter deutlich unsere Meinung. Er hört uns sicher, wir sind keine zehn Meter von ihm entfernt. Das ist ein Vorteil in der dritten Liga, man schimpft eigentlich nie umsonst, der Schiedsrichter hört einen schon. Wir trinken. Jeder geht einmal holen. Mir fällt in der Kantine auf, dass ich der einzige bin, der auf Französisch bestellt, die ganzen Elsässer reden Elsässisch. Kurios, denke ich mir, da ist Deutsch meine Muttersprache, und hier stehe ich in Frankreich und rede als Einziger Französisch, während die Einheimischen alle Deutsch miteinander reden. Mein Schädel dröhnt. Halbzeit. Die Toupetfrisur schlägt vor, dass wir doch die Seite wechseln sollten, damit wir auch in der zweiten Hälfte hinter dem Tor stehen, auf das Red Star spielt. Er erntet allgemeines Gelächter. Colmar ist drückend überlegen, Red Star zu zehnt und hat seit fast zwei Monaten kein Spiel mehr gewonnen, wie sollen wir da ein Tor schießen? Die zweite Halbzeit stehen wir hinter dem verwaisten Tor des Colmarer Goalies und sehen zu, wie Red Star sich im eigenen Strafraum einigelt und den Ball wie eine Rugby-Mannschaft möglichst hoch und weit ins Out drischt. Der kleine Tunesier ruft dem Tormann zu, er solle doch einen Red-Star-Schuss reinlassen, und dieser dreht sich zu uns um und lacht. Wir denken alle, dass kein Schuss kommen wird.
Die Zeit verrinnt, und in der 92. Minute macht unser neuer Trainer Vincent Doukantie das, was alle cleveren Trainer machen. Er wechselt, um Zeit zu gewinnen. Farid Beziouen schleicht provokant langsam hinaus und Geoffrey Malfleury betritt das Spielfeld. Malfleury? Unser Topscorer? Warum hat der eigentlich nicht von Anfang an gespielt, wenn er fit ist? In meiner Trunkenheit habe ich gar nicht bemerkt, dass Malfleury gar nicht spielt. Sogar der Massenmörder und Drogendealer Adams Doumbia war vor ihm eingewechselt worden. Während wir noch diskutieren, was das zu bedeuten habe, gewinnt Red Star am anderen Ende des Spielfelds einen Zweikampf. Youcef Touati hat plötzlich viel Raum, er sprintet über den halben Platz, passt auf den gerade erst auf den Rasen laufenden Geoffrey Malfleury, dieser hält den Fuß hin und der Ball kullert am Colmar-Goalie vorbei, springt dreimal auf und bleibt im Tornetz liegen. TOR! TOR! TOR! Wir haben gewonnen! Wir fallen uns um den Hals, wir wissen gar nicht, was wir tun sollen, wir schreien einfach unsere Überraschung hinaus, die Toupetfrisur klettert auf den Zaun und brüllt irgendwas aufs Spielfeld, der Deutsche marschiert mit erhobenem Schal wie irr im Kreis, ich halte mich einfach am Gitter fest und schreie, so laut ich kann. TOR! Wir haben gewonnen! Der Schiedsrichter lässt gar nicht mehr anstoßen, sondern pfeift nach dem Treffer direkt ab. Benebelt rennen wir hinaus auf die Straße, das müssen wir doch feiern! Wo kann man in Colmar feiern? Ein paar Gassen vom Stadion entfernt finden wir ein portugiesisches Restaurant, das noch offen hat. Wir trinken und schreien. Ich habe die tolle Idee, die Nacht in Colmar zu verbringen und am Sonntag einen Zug nach Paris zu nehmen, setze sie aber nicht um. Um Mitternacht schafft es der Rennfahrer schließlich, uns zum Auto zu schleppen. Irgendwo hinter Nancy schlafe ich ein.
Bienvenue en Banlieue Rouge
140 Seiten, A5, Paperback
Edition Zeitspiel, Zeitspiel-Verlag
ISBN: 978-3-96736-008-8