Ohne Fußball ist alles nichts 

 Geschichten und Kolumnen von Hardy Grüne

Vorwort

In über zwei Jahrzehnten sammelt sich eine Menge an. Erfahrungen und Erlebnisse, Lebensweisheiten, Siege, Niederlagen, Abenteuer und Sackgassen. Dass ich mal mit dem Fahrrad um die halbe Welt fahren würde hätte ich vor 20 Jahren sicher nicht geglaubt. Dass ich meinen Herzensverein Göttingen 05 erst verlieren und ihn dann, als nachgebildete Erinnerung, nicht mehr halb so attraktiv finden würde sicher auch nicht.

Zugleich ist Fußball die große Konstante in meinem Leben. Er hat mir die Welt geöffnet, hat mich tolle (und nicht so tolle) Menschen kennenlernen lassen. Hat mir unvergessene Momente beschert und mich in tiefste Agonie gestürzt. Hat mich die Welt verstehen lassen (denn eigentlich ist der Fußball nur eine Abbildung der Welt). Erst war es die Identifikation mit einem Verein (Göttingen 05), seinen Farben und seinem Wappen, das mich dem Fußball mit dem Herzen verfallen ließ. Dann kamen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, ein Studium der Geografie, immer mehr Recherchen, Reisen und Begegnungen, die mein Bild über den Fußball und all seinen Dimensionen, Facetten und Kräften auch in Kopf und Seele schärfte. 1992 erschien mein erstes Buch, wurde ich zum Fußballhistoriker und Fußballgeografen. 

Viel ist passiert seitdem, nicht alles hat sich (aus meiner Sicht) zum Guten gewendet. Über mehr als zwei Jahrzehnte begleite ich den Fußball nun als Fan, Journalist, Historiker und Reisender auch publizistisch. Oft kritisch, denn nur das, was man liebt ist einem so viel Wert, dass man sich zu kritischen Auseinandersetzungen aufrafft.

Schon lange hatte ich die Idee, die aus meiner Sicht wichtigsten Geschichten, Kommentare und Kritiken in einem Sammelband zu vereinen. Nun habe ich es endlich geschafft! Viele Texte sind ursprünglich für Bücher entstanden, andere für Zeitungsberichte oder in meinem über viele Jahre gepflegten Blog „FußballGlobus“. Zuletzt dominierten Storys und Kommentare für „Zeitspiel - Magazin für Fußball-Zeitgeschichte“, jenem alle drei Monate erscheinenden Printmagazin, das ich seit 2015 gemeinsam mit Frank Willig herausgebe und das auch den „FußballGlobus“ (und Franks „NordVier“) ablöste.

Nicht alles lag digital vor, denn meine publizistische Tätigkeit begann zu einer Zeit, als Computer nur einen Bruchteil dessen konnten, was sie heute können. Einiges des nur analog vorliegenden Materials konnte ich jedoch rekonstruieren und vermochte mich dadurch aus einem recht üppigen Fundus zu bedienen. Beginnend beim „Schlafenden Riesen“, einem inmitten der größten Klubkrise entstandenen Göttingen-05-Fanzine, zu dessen Mitgründern ich 1997 gehörte, über erste Veröffentlichungen in der TAZ und Berichte von Unterwegs für diverse Medien bis hin zur aktuelle Zeitspiel-Ära sowie ein paar Interviews.

Es ist (m)eine kleine Zeitreise durch die letzten Jahrzehnte des Fußballs geworden. Ich wünsche viel Spaß dabei und vergesst nicht: Reclaim the game!

Hardy Grüne

 Empört Euch!

Klartext Zeitspiel (30. Mai 2017)

„Krieg dem DFB“. Man wünscht es sich etwas kleiner. Und dass der martialische Grundtenor nicht auch noch durch Pyro, Gesichtsmasken und eindeutigen Gesten unterstrichen würde. So fällt es schwerer, dem durchaus nachvollziehbaren Kern der Sache seine Zustimmung zu erteilen.

Vielleicht wäre ein „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ passender. Zumal Georg Büchner damit 1834 die sozialen Missstände seiner Zeit verurteilte – und um die geht es indirekt auch in der aktuellen Diskussion im Fußball, die in rasantem Tempo ihren Bezugsrahmen verliert. „Krieg dem DFB“ auf der einen Seite, „hohe kriminelle Energie“ auf der anderen Seite. Die Fronten sind zunehmend verhärtet.

Als Beobachter und gemeiner Fan steht man dazwischen und droht zerrieben zu werden. Mag die selbsternannten DFB-Krieger mit ihren Sturmhauben und feuchten Pyro-Träumen nicht unterstützen, teilt zugleich aber die inhaltliche Kritik am DFB als stellvertretendes Objekt für den Wandel des Fußballs insgesamt. Eine Diskussion, die längst ausgeartet ist. Wer mit den Pyrokriegern argumentiert, wird aus ihr ausgeschlossen, da er es angeblich mit „kriminellen Banden“ hält. Wer die Entwicklung im Profifußball kritisiert, kommt wahlweise in die Schublade des „Anti-Kapitalisten“ oder des „Traditionalisten“ und verwirkt sein Recht auf Meinung und Stadionbesuch, da „der Profifußball nun mal kapitalistisch“ sei. Nachgetreten wird dann auch noch, denn im Fußball sei doch eh längst „bis in die Kreisklasse alles von Geld verseucht“.

Das erinnert mich an die Zeit, in der ich zum Vegetarier wurde. Das ist rund 35 Jahre her. Damals erregten die Grünen um Petra Kelly die Nation. Als angehender Vegetarier, motiviert von einigen Schlachthof-Besuchen, blieben mir im gesellschaftlichen Kontext exakt zwei Möglichkeiten: ganz oder gar nicht. Ganz hieß, zwar auf Fleisch verzichten zu dürfen, dann aber zwingend auch allen anderen Errungenschaften der Moderne ade zu sagen: Auto fahren, der Umwelt in welcher Form auch immer Schaden zufügen oder auch nur zum Fußball zu gehen, denn da waren damals vermeintlich nur Proleten und Nazis. Als Vegetarier hatte ich hundertprozentiges Vorbild zu sein – oder war unglaubwürdig.
Als Kritiker der aktuellen Fußballstrukturen geht es mir nun wieder ähnlich. Wem unwohl dabei ist, dass vermögende Einzelpersonen ihre Dorfklubs oder selbstgegründeten Fußballunternehmen an allen vorbei in die Champions League hieven können oder wem die absurden Transfersummen und die immer flächendeckendere Kommerzialisierung bedrohlich erscheint, gerät in die Erklärungsfalle. „Die Entwicklung kann man nicht aufhalten“, wird einem naseweis vorgehalten. Ende der Diskussion. Das ist eine Einstellung, die an Lemminge erinnert und dem Fußball Schaden zufügt. Denn wenn ausschließlich diejenigen die Regeln bestimmen, die die Deutungsmacht haben – und das sind in unserer Welt nun mal oft diejenigen, die Geld, viel Geld haben – und die breite Masse nur ergeben hinterhertrottet, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn Helene Fischer die Halbzeitshow beim Pokalfinale machen darf oder der FC Bayern eine Agentur beauftragt, eine Choreo zu organisieren. Denn so sieht der Fußball aus Sicht der VIP-Loge, in der Fußball lustiger Zeitvertreib zwischen zwei Geschäftsdeals ist, aus. Yves Eigenrauch sprach kürzlich von „professioneller Kommerzialisierung“. Das trifft den Kern ziemlich gut.

Es ist naiv zu glauben, die Entwicklung ließe sich umkehren oder auch nur aufhalten. Um mit Erich Honecker zu sprechen: „Den Kommerz in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf“. Und die Entwicklung des Fußballs seit den 80er-Jahren hat ja zweifelsohne auch viele begrüßenswerte Aspekte. Zugleich ist es aber auch naiv zu glauben, man könne die Schrauben der „professionellen Kommerzialisierung“ endlos anziehen, ohne dass sich die Rahmenbedingungen verändern. „Krieg dem DFB“ und das Pfeifkonzert von Berlin sind zwei Konsequenzen, die zeigen, dass der Wendepunkt erreicht ist.

Fußball verliert den Kontakt zu einem Teil seiner Basis. Nicht nur durch den allgegenwärtigen Kommerz, nicht nur durch die katastrophalen Zustände von Organisationen wie FIFA, UEFA und DFB, nicht nur durch den „Krieg“ zwischen entrückten Funktionären und hinter Sturmhauben versteckten Fansoldaten, deren Interesse am Fußball beiderseits selbstsüchtig ist. Die Rasanz der Entwicklung geht zu schnell und betrifft zu viele Felder und einstige Nischen. Selbst der hochgejazzte „Tag der Amateure“ nervt inzwischen. Weil er wie eine Konfettikanone etwas befeuert, das über Jahrzehnte selbstverständlich war und in den letzten Jahren unter der Monopolisierung des Spitzenfußballs derart unter Druck geriet, dass er nun „von oben“ in einem Akt der Gnade hervorgehoben werden muss. „Seht her, wir feiern unsere Amateure, die echten Profis.“ Tatsächlich ist er aber nur ein Feigenblatt; wenngleich – das soll an dieser Stelle hinreichend gelobt werden – der Amateurfußball unterm Strich insgesamt davon profitiert.
Doch die Lachs-Häppchen genießt man zu allererst beim x-ten „German clasico“ zwischen dem FC Bayern und dem BVB, jüngst sogar erstmals in seiner Variante als U19-Finale zu haben. Es ist auch diese Konzentration auf nur zwei nationale Fußball-Pole, die anstrengt. „Ich würde mir mal wieder ein Pokalfinale zwischen zwei normalen Klubs wünschen, statt CL-Truppe unter sich oder vs. Außenseiter“, twitterte 11Freunde-Chefredakteur Christoph Biermann am Wochenende. Meine (und vermutlich auch Biermanns) Facebook-Timeline war unterdessen geflutet mit Artikeln über Borussia Dortmund, der Jubelfeier von Borussia Dortmund und der tragischen Beziehung zwischen Borussia Dortmund und seinem Trainer. Süddeutsche, Zeit, Welt, FAZ, FR, Tagesspiegel – sämtliche Medien berichteten in Endlosschleife, als gäbe es nichts anderes in der (Fußball)-Welt.

Es braucht dringend konstruktive Korrekturimpulse, denn einer Handvoll Gewinnern stehen inzwischen viel zu viele Verlierer gegenüber. Wie diese Impulse aussehen können, demonstrierten Fans des Blackpool FC am Wochenende in England. Aus Protest gegen den Eigentümer ihres Klubs boykottierten sie das Play-off-Finale ihres Teams. Sie verzichteten aktiv auf das wichtigste Spiel der jüngeren Vereinsgeschichte, weil sie den Zustand ihres Klubs für nicht mehr tragbar halten. Nachhaltige Entwicklung ging ihnen vor kurzfristigem Erfolg. Englands Presse sprach von einer „Weichenstellung“.

Auch wenn es Romantik ist zu glauben, der Profifußball würde seinen eingeschlagenen Weg noch einmal verlassen, ist es dringend nötig, die lähmende Betroffenheit und Enttäuschung in der breiten Masse der Fußballfans endlich abzulegen. Wir müssen aufzustehen und uns engagieren, um zumindest die Möglichkeit einer anderen Fußballkultur zu wahren. Ob in der Bundesliga oder der Kreisklasse – empört Euch!

Mit den Bauern in Paris 

FußballGlobus (1. September 2013)

So ein Aufstieg ist eine schöne Sache. Man spielt eine Klasse höher und rückt verstärkt in die allgemeine Wahrnehmung, bekommt neue Gegner zu sehen, kann in Stadien reisen, in denen man noch nie gewesen ist.Tolle Sache also, oder? Nicht nur! Denn wenn man von der 2. in die 1. Liga aufsteigt, dann landet man – zumindest in Frankreich – zudem mitten im „Modernen Fußball“.

Genau das ist mir mit meinem französischen Liebling En Avant Guingamp passiert. Seit ich 1995 mein Fußballherz an den Klub aus der Nordbretagne verloren habe, bin ich mit den Guingampais dreimal abgestiegen (zweimal aus der 1. Liga, einmal aus der 2. Liga) und dreimal aufgestiegen (zweimal in die 1. Liga, einmal in die 2. Liga). Ich habe also schon einiges gesehen und auch mitgemacht.

Doch das war nix im Vergleich zu gestern, als ich nach neun Jahren in der zweiten bzw. dritten Liga  mal wieder zu einem Guingamp-Spiel in der Ligue 1 gereist bin.
Ziel war Paris, Gegner ein Verein, der sich neu erfunden hat: Paris-Saint Germain. Neuer Sponsor, neues Outfit. Neues Logo, neuer Slogan. Neue Spieler, neue Fans – PSG ist der neue Stern am französischen Fußballhimmel, wobei die Betonung auf „neu“ liegt. In Paris ist in den letzten Jahren so ziemlich alles umgekrempelt worden. Ziel ist es, einen massenkompatiblen Hauptstadtverein zu schaffen, der das Zeug dazu hat, das „neue Fußballpublikum“ in ganz Frankreich zu erreichen/begeistern.

Dabei ging man ebenso planungssicher wie rücksichtslos vor. So im Fall der beiden aufgelösten früheren Fangruppen Boulogne Boys und Auteuil. Zweifelsohne alles andere als pflegeleicht und zudem heftigst miteinander verfeindet. Das hatte nicht zuletzt soziale bzw. gesellschaftliche Hintergründe. Die Boulogne Boys, bestehend zumeist aus Bewohnern der Stadt und der wohlhabenderen westlichen Vorstädte, galten als rechtsoffen bis rechtsextrem, die Besucher der Tribüne Auteuil hingegen stammten überwiegend aus der eher schwierigen nördlichen und östlichen Banlieue und wiesen häufig einen Migrationshintergrund auf. Beide Gruppen fielen in der Vergangenheit wiederholt negativ auf, wobei vor allem die Boulogne Boys mit Aktionen wie dem „Pädophilen“-Transparent beim Ligapokalendspiel gegen Lens 2008 Schlagzeilen machten.
Nach der Übernahme des Klubs durch die katarische Investorengruppe Qatar Sport Investment (QSI) im Mai 2011 wurden vor der Saison 2011/12 sämtliche Fangruppen aufgelöst und die Karten im wahrsten Sinne des Wortes neu gemischt. Jeder Dauerkarteninhaber aus den Kurven erhielt einen neuen Platz zugewiesen, womit die verbotenen Gruppen auch räumlich zerschlagen wurden. Es hagelte Stadionverbote, Frauen erhielten kostenlos Eintrittskarten, Jugendliche unter 16 zahlten nur den halben Preis. Kurzum: PSG schuf sich zwei neue Fankurven. 

Für Guingamp und seine reiselustige Fanschar war das Duell in der Hauptstadt dennoch ein Leckerbissen. Vor kaum drei Jahren spielte man schließlich noch in Orten wie Luzenac, Plabennec und Alfortville – nun stand da auf dem Spielfeld des Parc des Princes plötzlich jemand wie Zlatan Ibrahimovic. Es war ein klassisches Duell David gegen Goliath. PSG mit einem (offiziell) 400 Mio-Euro-Etat – Guingamp mit vergleichsweise schmalbrüstigen 20 Mio. Euro. PSG mit der Attitüde eines leicht versnobten und arroganten Hauptstadtvereins – Guingamp wie das Meppen Frankreichs als Gummistiefelfraktion und mit dem Fangesang „Les paysans sont de retour“ – „Die Bauern sind wieder da“

Im Internet kursierten sogar Bilder von einer Traktorenkolonne auf der Autobahn, die betitelt waren mit: „Paris am Samstag: Zone Rouge“ (das steht in Frankreich für „Staugefahr“). Trecker wurden dann am Parc des Princes zwar keine gesichtet, dafür rollten mehrere Busse sowie zahlreiche Privat-PKW aus dem rund 500 Kilometer entfernten Guingamp an. Hinzu kamen Bretonen aus dem gesamten Pariser Umland sowie Exoten wie mich oder auch ein in Berlin lebender Bretone, der rasch mal für das Spiel nach Paris gejettet war. Am Ende war der Gästeblock mit 650 Leuten jedenfalls ziemlich gut gefüllt – vor allem, wenn man die Zahl in Relation zu den etwa 7.000 Einwohnern, die Guingamp hat, setzt.
So groß der Stolz der Guingampais war, wieder erstklassig zu sein, so groß war aber auch der Schock, was aus der Erstklassigkeit zumindest in Paris geworden war. Das Stadion – großräumig von Polizei abgesperrt. Nur mit gültiger Eintrittskarte kam man auch nur in die Nähe der Eingänge. Ich durfte einmal das gesamte Areal umrunden, ehe ich endlich den Zugang zum Gäs-teblock erreicht hatte, wo mich ein eindrucksvolles Ordnungshüteraufgebot empfing. Die Busreisenden berichteten unterdessen, dass sie ab Guingamp von einer Motorradeskorte der Polizei begleitet worden waren. Guingamp gewinnt übrigens regelmäßig den Preis des „fairsten Publikums in Frankreich“, und ich mag mir nicht ausmalen, wie Paris aussieht, wenn Erzrivale OM anollt.

Die nächste Überraschung beim Kartenkauf. Zum einen gab es Karten nur gegen Vorlage eines Ausweises, der grundsätzlich in einem bretonischen Departement ausgestellt sein musste (mit meinem deutschen Pass sorgte ich entsprechend für Verwirrung und kam nur rein, weil ich ein T-Shirt mit der Aufschrift „Kop Rouge Allemagne“ trug...), zum anderen waren pro Nase 35 Euro fällig. Einheitspreis! In der 2. Liga hatte es die Billets für den Gästeblock in der Regel für fünf bis acht Euro gegeben. Nachdem wir alle zähneknirschend ein wenig zur Deckung des 140 Mio-Salär von Zlatan I. beigetragen und auch die intensiven Leibesvisitationen hinter uns gebracht hatten, die nächste Überraschung: Für 0,3 l Wasser im Plastikbecher waren stolze drei Euro hinzulegen (an Bier war natürlich gar nicht zu denken – auch nicht an Leichtbier). So langsam verfestigte sich der Eindruck, dass das alles wohl kein billiger Spass werden würde. Irgendwo muss so ein 400 Mio-Etat ja auch herkommen.

Der Gästeblock präsentierte als sich der in Frankreich übliche Hochsicherheitstrakt. Wer einmal drin ist, kommt so schnell nicht wieder raus. Immerhin war die Sicht recht gut, wenngleich die engen Sitzreihen bei allen nicht der Größennorm entsprehenden Besuchern für Probleme sorgten. Na, für 35 Euro kann man ja nicht auch noch Bequemlichkeit erwarten, oder? Stimmungsmäßig das übliche Aufwärmprogramm – knalllaute Musik aus der Dose, eine peinliche Animation durch das Klubmaskottchen und insgesamt ein Hype, der aus einem profanen Fußballspiel ein supertolles-und-niemals-zu-vergessendes „Event“ macht. Dass wir in direkter Nachbarschaft zur Heimfan-Tribüne Boulogne standen, war übrigens kein Problem – außer den üblichen Pfiffen und Buhrufen sowie „Bauern“-Rufen war da nix zu hören.

Mit dem Anpfiff packten dann alle ihre offenbar am Stadioneingang verteilten neuen PSG-Fähnchen aus und wedelten tüchtig damit rum. Der Oberring hatte rote Fahnen bekommen, der Unterring blaue. So kann man eine Choreografie natürlich auch machen! Choreografie? Fahnen? Banner? Abgesehen von den verteilten Werbefähnchen war diesbezüglich Fehlanzeige. Im ganzen Rund nichts zu sehen. Klinisch rein wirkte der Parc des Princes. Gesäubert von all den „dreckigen“ Elementen, die der Fußball AUCH so anzieht und die die Kurve so einzigartig macht.

In Paris nicht mehr. Da tummelt sich sowohl auf Haupt- und Gegengerade als auch in den beiden Kurven etwas, das hierzulande wohl Theaterpublikum genannt werden würde. Anfeuern? Kaum zu hören. Ab und an mal ein „Pari“, bei Freistößen auch mal etwas rhythmisches Geklatsche, ansonsten aber hörte man nur die spitzen Schreie, wenn „ER“ an den Ball kam. Ihr wisst schon, der mit dem Zöpfchen, dessen Gehalt wir mit den jeweils 35 Euro pro Nase mitfinanziert hatten. Von Fußballstimmung war nichts zu hören – außer natürlich im Gästeblock, wo man freudig zur Kenntnis nahm, den Parc des Princes in Stimmung bringen zu können. Nur ein „Ici, c’est Guingamp“ sorgte dann mal für Aufregung, Pfiffe und die leicht wütende und von uns freudig beklatschte Antwort „Ici, c’est Paris“.
Irgendwie surreal. Ein Stadion ohne echte Fanblöcke, ohne destillierte Stimmung, ohne diesen Kern, von dem aus die Atmosphäre verbreitet wird. Das „neue“ Publikum wirkte unwissend, unentschlossen. Hier und da saßen sicher ein paar Altfans, die wussten, wie es geht, doch um sie herum war das neue Publikum, und das war ratlos. PSG hat seine Fans gekillt.

Der aus meinen Augen leider sehr unschöne Spielverlauf – das 1:0 für PSG fiel in der zweiten Minute der Nachspielzeit, das 2:0 in der dritten – weckte die lethargische Masse dann kurz auf. Plötzlich flatterten die Fahnen wieder, dirigierte der Stadionsprecher den Chor der Fröhlichen. Altfans waren daran zu erkennen, dass sie hämisch mit erhobenem Mittelfinger in die Gästekurve winkten. Was ehrlich gesagt nach dem Spielverlauf und vor allem dem Stimmungsverlauf schwer zu ertragen war.

Der Rest war Schweigen. Während der Sieger grußlos in der Kabine verschwand (auf den Rängen war aber auch niemand, der Zlatan und Co. zum Abklatschen aufforderte), durften sich die Gästefans in die Obhut der Gendamerie begeben, die uns eine geschlagene Stunde „gefangen“ hielt, ehe wir tröpfenweise das Gelände verlassen durften – natürlich begleitet von bürgerkriegsmäßig bewaffneten „Streitkräften“, denen weiß Gott mehr als nur Pfefferspray und Schlagstock zur Verfügung stand. Endlich draußen, begegnete mir auf dem Weg zur Metro noch einmal der „neue“ PSG-Fan: urban, hip und vermögend. Und das ist das in meinen Augen wirklich schlimme an der Verwandlung von PSG in P$G: es gibt genügend Leute, die das „Produkt“ annehmen und dem ganzen Prozess damit zum Erfolg verhelfen.

Das letzte Bild sei aus der Metrostation gesendet, als vor mir in der Schlange am Ticketschalter eine US-amerikanische Familie, bestehend aus Vater, Mutter und ca. siebenjährigem Sohn, allesamt in voller PSG-Montur, verzweifelt versuchte, dem Ticketschalter ein Billet zu entlocken. Leider waren bei diesen glühenden Pariser Fans keinerlei französische Sprachkenntnisse vorhanden. Nein – ich habe meine Hilfe nicht angeboten, sondern habe sie zappeln lassen. Und nochmals nein: ich schäme mich nicht dafür!

Mir ist nach diesem „Erlebnis“ nicht mehr wohl mit dem Fußball. Die Entwicklung bei Bayern München in den letzten Wochen, die Ereignisse von Dortmund und Schalke, dann hier in Paris zu sehen, dass es tatsächlich möglich ist, sein Publikum auszutauschen – allzu optimistisch, dass „holt Euch das Spiel zurück“ noch einmal eine Renaissance erfahren wird, sollte man wohl nicht sein. Allenfalls die „Kleinen“ geben Grund zu Zuversicht – Klubs wie der SC Freiburg hierzulande oder En Avant Guingamp in Frankreich. Man darf gespannt sein, wie sich sich im „Modernen Fußball“ werden behaupten können.

Ohne Fußball ist alles nichts

268 Seiten, A5, Paperback
Edition Zeitspiel, Zeitspiel-Verlag