Montevideo
Montevideo ist gemeinsam mit Buenos Aires eine der ältesten Fußballhochburgen der Welt, ausgestattet mit einer leidenschaftlichen Fankultur. Uruguay, das so viele Einwohner wie Berlin hat, kann auf enorme Erfolge zurückschauen: Zweimal Olympiasieger, zweimal Weltmeister, 15 Mal Sieger der Copa América - und damit häufiger als Brasilien oder Argentinien. Montevideo ist Uruguays fußballerisches Epizentrum.
Eine Reise in das Herz des Fußballs
Rumpelige Canchas.
Streitbare Barrios.
Engagierte Fans.
Grenzenlose Hingabe.
Pure Leidenschaft.
Reine Liebe.
Fußball.
Montevideo und Buenos Aires sind für viele Fußballfans Traumziele. Wer guten Fußball sehen will, reist sicher an andere Orte. Wer jedoch eine Fankultur erleben möchte, deren Nukleus die grenzenlose Leidenschaft und Hingabe ist, der kommt voll auf seine Kosten. Bis in die unteren Ligen reihen sich die Spektakel, und wer seine Besuche über die namhaften Vereine hinweg organisiert, erlebt eine wahrlich einzigartige Fußballkultur.
Zwei längere Aufenthalte in Südamerika ließen mich 2014 bzw. 2017 eintauchen in diese Welt, die in uns Westeuropäern häufig ratlose Faszination auslöst. Denn über Stadtautobahnen brausende Buskolonnen voller Fans, die mit freien Oberkörpern aus den Busfenstern hängen oder gleich auf dem Dach hocken, und mit Trommeln und Posaunen marschierende Gruppen schwitzender Machomänner wirken aus unserer „Safety first“-Attitüde heraus ziemlich irritierend. Die selbstverliebte Leidenschaft, mit der die Hinchas (Fans) bzw. Barras Bravas (organisierte Fangruppen) ihre Choreografien und Gesänge vortragen, ist überwältigend, und selbst wenn die Ultraszene in Deutschland längst eine respektable Kreativität und Intensität entwickelt hat, bleibt Südamerika der Sehnsuchtsort für viele Fußballfans.
Im Gegensatz zur durchchoreografierten Fußball-Eventisierung in Europa ist Fußball in Südamerika zudem unverändert Teil der Alltagskultur und tief im Lebensalltag der Menschen verankert. Es geht nicht nur um das Spiel und den Stadionbesuch, um Graffitis und Choreografien, es geht um Abgrenzung und Dazugehörigkeit, um Territorium und Eroberung und nicht zuletzt um Hoffnung und Halt in einer Welt, die bisweilen von existenzieller bis existenzbedrohender Schärfe geprägt ist.
Während Fußball für viele den Lebensanker darstellt, ist die Herzkammer eines jeden Klubs sein Stadtteil, der Barrio. Dort, wo die Cancha (das Stadion) steht, wo Graffitis die Herrschaftsbereiche der Barras Bravas abgrenzen, wo jedes Spiel Farbe, Leben und trotzige Zuversicht in einen häufig ernüchternd grauen und tristen Alltag zaubert. In seinem Barrio ist der Klub weit mehr als nur ein Fußballverein, zu dem man hingeht, um sich die Spiele anzuschauen. Er ist das Bannerschild des Viertels – und oft genug zugleich das Schwert, mit dem der eigene Barrio verteidigt oder der gegnerische angegriffen wird.
Fußball und Gewalt sind in Südamerika noch unmöglicher voneinander zu trennen als in Europa. Wer sich einmal durch einen jener berüchtigten Barrios getraut hat, die Blicke und den Argwohn auf sich spürte, die einfachen Lebensumstände wahrnahm und die Perspektivlosigkeit vor allem der Jugend begriff, der bekommt eine Ahnung, was der Fußball dort bedeutet. Und dass der sportliche Wettstreit zwischen zwei Fußballmannschaften dadurch schleichend verschwimmt mit Machtkämpfen adrenalingetriebener Machogruppen auf den Rängen sowie jenem existenziell menschlichen Grundbedürfnis nach Gemeinschaft, das umso intensiver wird, je stärker die eigene Lebenswelt gefühlt bedroht ist. In einige Barrios wagt man sich daher besser nur mit wachsamer Vorsicht, gesundem Menschenverstand, dem Bewusstsein des eigenen Wohlstands (gilt auch für groundhoppende Sparfüchse!) und einer gewissen mentalen Durchlässigkeit für die südamerikanische Lebensart.
Auf meinen beiden Reisen habe ich viele dieser Barrios gesehen und so manchen durchwandert. Davon handelt das vorliegende Buch über Montevideo ebenso wie der zweite Band, in dem es um Buenos Aires gehen wird. Es waren Besuche in den Hauptkammern zweier Fußballherzen und zugleich Wanderungen entlang der Welten. In den Stadtzentren von Montevideo und Buenos Aires fühlte ich mich heimisch-vertraut, weil vieles wie in Europa ist – die üblichen Laden- und Kaffeehausketten, die Leichtigkeit des Wohlstands, die Allmacht des Geldes. Schon ein paar Busstationen weiter sieht die Welt jedoch oft völlig anders aus: Wellblechhütten, unasphaltierte Rumpelpisten, ein Leben, das abseits der Konsumgesellschaft stattfindet. Stärkstes Symbol für die Bedeutungslosigkeit, in die die Einwohner dieser Barrios von Verwaltung und Politik gerne abgeschoben werden, sind fehlende Straßenschilder. Als würden sie nicht gebraucht, als gehörten diese Straßen ohnehin nicht zur Stadt, als seien sie nicht vorhanden. Touristen verirren sich hier nicht hin. Es sei denn, sie sind Fußballfans. Dann geht es mitten hinein nach Villa del Cerro oder Jardines del Hipódromo, mitten hinein ins wild schlagende Fußballherz.
Meine Stadionbesuche dienten nicht dem Spiel, sondern seinem Rahmen. Ich bin losgezogen, weil ich sehen wollte, in welchem Umfeld Fußball gespielt wird. Wie sich die Unterschiede in der Zuschauerschaft zeigen, was für Perlen der Fankultur abseits von Nacional und Peñarol zu entdecken sind. Was die Geschichte an Legenden erschaffen hat. Und genau davon handelt dieses Buch. Keine Spielberichte, keine Torschützen, keine Erzählungen von tollen Flankenläufen. Stattdessen bebilderte Erlebnisberichte aus dem Herzen des gelebten Fußballwahnsinns.
¡Buen Viaje!
Fußball als Pulsschlag der Stadt
Wer will nicht alles „Fußballhauptstadt der Welt“ sein? An erster Stelle natürlich Buenos Aires, und das sicher auch zu Recht. Doch auf der anderen Seite des Río de la Plata liegt eine weitere Perle, die der argentinischen Metropole in Sachen Fußballleidenschaft und -historie kaum nachsteht: Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, eines Landes, das so groß ist wie Österreich, Baden-Württemberg und Bayern zusammen und auf ganze 3,5 Millionen Einwohner kommt (die genannten drei Länder: 32 Millionen), von denen zwei Drittel in der Kapitale leben. Montevideo ist eine Millionenstadt mit gigantischem Vorgarten.
Und trotzdem ist sie erstaunlich „greifbar“, kann man ihre Fußballkultur quasi zu Fuß erforschen. Vom Estadio Centenario, in dem 1930 das erste WM-Finale ausgetragen wurde, zum Stadion des Club Nacional, der den Titel „Ältester Fußballverein Uruguays“ für sich reklamiert, sind es keine zehn Gehminuten. Der zentrale Busbahnhof Tres Cruces, von wo aus man jeden Ort Uruguays (und jeden größeren in Südamerika) erreichen kann, liegt auch gleich um die Ecke. Und bis hinunter zur pittoresken Altstadt ist man strammen Schrittes eine knappe Stunde unterwegs, wandelt dabei über die mächtige Avenida 18 de Julio, Montevideos gewaltige Einkaufsmeile.
Uruguays Kapitale gehört zu den angenehmsten Millionenstädten der Welt. Wo man in Buenos Aires (das allerdings auf 14 Millionen Einwohner kommt – sechsmal mehr als Montevideo!) ständig gewarnt wird, auf keinen Fall in diesen oder jenen Barrio zu gehen, darf man sich in Montevideo überall umsehen. Ein bisschen gesunder Menschenverstand sollte dennoch dabei sein, wenn die Reise beispielsweise nach Villa del Cerro geht, ein etwas heruntergekommenes Viertel auf der der für Touristen aufgepimpten Altstadt gegenüberliegenden Seite der Bucht. Denn auch in Montevideo herrscht jenes für Südamerikas Metropolen so typische Szenario eines brisanten sozialen und kulturellen Gefälles, bei dem sich eine Handvoll Gewinner, die in eingezäunten und von privaten Sicherheitsdiensten bewachten Villen leben, und eine vielköpfige Unterschicht, die sich mühsam durchschlagen muss, gegenüberstehen. Und das geht nun mal nicht ohne Reibung vonstatten.
Fußball ist in Montevideo allgegenwärtig. Nicht ganz so frontal und obsessiv wie in Buenos Aires und doch untrennbar verwoben mit dem Alltagsleben, den Medien, den Gesprächen, den Beziehungen der Menschen untereinander. Um das zu erfahren, bietet sich neben dem Stadiongang der Besuch des sonntagvormittäglichen Flohmarktes entlang der Calle Dr Tristán Narvaja an, wo namentlich die beiden Großvereine Nacional und Peñarol in allerlei Erscheinungsformen aus unterschiedlichsten Epochen vertreten sind. Dabei wird zugleich deutlich, dass Fußball in Montevideo eine enorme historische Dimension hat, die ihn als Kulturgut auf eine Ebene mit dem Tango stellt.
Über 70 Prozent aller Uruguayos zwischen sechs und 20 Jahren spielen in einem Verein Fußball. Das ist ein gewaltiger Unterschied zum Nachbarn Buenos Aires, wo Fußball in erster Linie als Folklore auf den Fantribünen ausgelebt wird und aktiv eher als spaßorientierter Feierabendkick unter Autobahnbrücken etc. stattfindet. Als Zuschauersport wiederum ist Montevideos Fußball zwiegespalten. Die beiden Giganten Nacional und Peñarol überragen alles und haben seit 1900 insgesamt 99-mal den Landesmeister gestellt. Ihre Fans leben im ganzen Land, und im Grunde stellen sie jeden Einwohner Uruguays – egal ob alt oder jung, ob Frau oder Mann – vor die Frage, auf welcher Seite man steht. „Nacional o Peñarol?“ entscheidet über Wohl und Wehe, über Liebe und Hass, über Freundschaft und Feindschaft. Während Nacional lange als Klub der (weißen) kreolischen Mittel- und Oberschicht galt, stand Peñarol mit seiner Vergangenheit als Eisenbahnerverein dem Proletariat und den Einwanderern nahe. Das aber ist nun wirklich Folklore, die in der Gegenwart kaum eine Rolle mehr spielt und nur noch herausgekramt wird, wenn man den jeweils anderen ärgern will.
Über dem Superclásico Uruguayo steht nur noch die Nationalmannschaft, La Celeste (die Himmelblauen). Tritt sie auf, steht das öffentliche Leben still, klebt die ganze Nation am Bildschirm. Für ein Land der Größe und Einwohnerzahl Uruguays (ungefähr vergleichbar mit Berlin!) ist sie bemerkenswert erfolgreich und für die Uruguayos ein steter Quell des Stolzes. 1930 und 1950 wurde man jeweils Weltmeister, war 2018 bereits zum 13. Mal bei einem WM-Turnier dabei.
Verlässt man die Bühne des großen Fußballs, wird es rasch überschaubarer. Wenn traditionsreiche Klubs wie Defensor, Wanderers oder Rampla Juniors auflaufen, verlieren sich oft nur wenige hundert Neugierige auf den Rängen und in Stadien, an denen der berühmte Zahn der Zeit mehr als nur genagt hat. Für Groundhopper und Fußballkulturisten mag Montevideo eine weltweit unschlagbare Zeitreise in eine Epoche bieten, in der Fußball ein selbstverständlicher Bestandteil der Alltagskultur war und niemand von den heutigen Sicherheitsbestimmungen sprach. Für die betroffenen Vereine und ihre Fans bedeuten die maroden Arenen indes einen infrastrukturellen Rückstand, der nicht mehr aufzuholen ist. Die Schneise im uruguayischen Klubfußball ist insofern eine tiefe und vor allem eine unüberwindbare. Vereine wie Defensor oder Danubio kratzten in den letzten Jahren zwar hin und wieder an der Vormachtstellung der beiden Giganten, stürzen konnten sie sie jedoch nicht. Und so prägen Sorgen über den Zustand ihrer Spielstätten, karge Zuschauerzahlen, wenige Sponsoren sowie bescheidene sportliche Perspektiven den Alltag dieser „kleinen“ Klubs. Zugleich überzeugen sie durch eine familiäre und entspannte Atmosphäre, die weltweit einzigartig für eine Profiliga in einer der großen Fußballnationen ist. Bei ihnen bedeutet Fußball einen Familienausflug mit Kindern, kennt jeder jeden, liefern die kleinen Barras Bravas akustisches Beiprogramm, engagiert man sich auch abseits des Spielbetriebs rührend für seinen Verein. Nostalgisch verklärend kann man sagen, dass Fußball in Montevideo noch ein bisschen so ist, wie er früher überall war.
Mit seinem geradezu sagenhaften Talentereichtum, der seit über 100 Jahren aus einem überschaubaren Spielerpool regelmäßig Ausnahmekönner wie zuletzt Forlán, Cavani oder Suárez hervorbringt, ist Uruguay auch eine Fußballer-Exportnation. Die Talente werden als Kinder und Jugendliche zumeist bei einem der „Kleinen“ entdeckt und ausgebildet, wechseln im jungen Erwachsenenalter zu einem der beiden Großen und werden von dort ins Ausland verkauft, sobald sie den Durchbruch geschafft haben. Die ganz Aussichtsreichen gehen nach Europa, die weniger Hochbegabten verdingen sich auf dem amerikanischen Markt und versuchen, in möglichst kurzer Zeit so viel Geld zu verdienen, dass sie nach der Karriere eine berufliche Perspektive haben.
Die suchen sie dann oft genug in der Heimat, denn eines ist nahezu allen Einwohnern Uruguays gleich: Sie lieben ihr Land. Zumal sich Uruguay seit 2005, nach vielen Jahren der politischen und wirtschaftlichen Krisen positiv entwickelt hat. Heute trägt man schon fast wieder jenes Qualitätslabel einer „Schweiz Südamerikas“, das dem Land in den 1920er Jahren weltweit Ruhm, Aufmerksamkeit und Einwanderer vor allem aus Europa eingebracht hatte. Nicht zufällig fand das WM-Debüt 1930 ja ausgerechnet in Montevideo statt, und mit José Mujica fungierte zwischen 2010 und 2015 ein Präsident an der Spitze Uruguays, der mit seiner ungewöhnlich bescheidenen Art zu einer positiven Ikone in der Debatte um die globalen Folgen der neoliberalen Auswüchse avancierte.
Von der vielschichtigen kulturellen Mischung des Einwanderungslandes Uruguay ist auch sein Fußball geprägt. Spanische und italienische Einflüsse sind am häufigsten anzutreffen. Doch auch deutsches Erbe findet sich (einer der Fußball-Pioniere war der Deutsche Fußball-Klub), jüdisches ohnehin, dazu afrikanisches sowie nord- und südamerikanisches. Rassismus ist vergleichsweise selten, das Miteinander ausgeprägt. Und seine Identität lebt man nicht zuletzt über den Fußball aus, wo namentlich die Celeste alle kulturellen und sozialen Schranken überwindet und das Land in Jubel wie Trauer vereint. Montevideo ist ganz bestimmt eine der „Fußballhauptstädte der Welt“!
Montevideo
128 Seiten, A4, Hardcover
ca. 300 Abbildungen
Edition Zeitspiel, Zeitspiel-Verlag
ISBN: 978-3-96736-002-8