Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien

Hardy Grünes Rad-Reisebericht durch das Fußball-Land Albanien und seine einzigartige Vergangenheit. Unter den Kommunisten war Fußball der König im abgeschotteten Land.

Vorwort: Eine Reise durch Albanien

Dies ist ein Roadbook, weil ich mit dem Fahrrad durch Albanien gereist bin. Mich im Dieselgestank wiederfand, mit Eselkarren und Kamikazepiloten um kaputte Asphaltpisten konkurrierte. Menschen begegnete, die sämtliche Vorurteile über ihr Land mit einem Lächeln wegwischten. Mich ständig irgendwelche Anstiege hochstemmte, denn Albanien ist eines der hügeligsten Länder Europas. Und die Landschaft bestaunte, denn es ist auch eines der schönsten. Eines, von dem es gerne heißt, es sei noch „unentdeckt“.

Dies ist aber auch eine Landeskunde, weil ich auf meiner Route oft dort vorbeischaute, wo Enver Hoxha, Albaniens so liebevoll „Onkel Enver“ genannter Diktator über mehr als 40 Jahre, einen rigiden Stalinismus praktizierte. Von 1944 bis 1991 war Albanien eine skurrile Mischung aus Partisanen-Mythos, Nationalismus und militantem Linkskommunismus, in dessen Zentrum Hoxha in einem exzessiven Personenkult gehuldigt wurde. Hinter der sozialistischen Fassade war es ein nahezu völlig abgeschottetes, rückständiges Armenhaus. Es gab mehr Bunker als Autos, aus Kirchen und Moscheen waren Sporthallen geworden und jeder, der auch nur den Hauch von Zweifel äußerte, marschierte ins Arbeitslager.

Ein weiterer Fokus meiner Reise mag ungewöhnlich erscheinen, doch wer meine Bücher kennt, wird darüber nicht erstaunt sein. Wir mögen in Deutschland die talentierteren Fußballer haben, und ganz bestimmt haben wir die größeren Erfolge. Die besseren Fußballgeschichten aber hat Albanien. Vor allem aber ist Fußball perfekt geeignet, um die jüngere Landesgeschichte zu erzählen. Denn in den 1980ern war Albanien europaweit das Land mit dem proportional höchsten Zuschauerbesuch im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Da verwundert es nicht, dass auch die ersten Vorboten der politischen Revolution in den Stadien auftraten, denn die waren damals die letzten öffentlichen Räume, in denen sich Albaner „frei“ begegnen konnten. Heute geht übrigens kaum noch jemand ins Stadion, sind der FC Bayern oder Juventus beliebter als jede einheimische Mannschaft. Wie vieles im Land steckt auch Albaniens Fußball in einem Sumpf aus Vetternwirtschaft, Korruption und Aussichtslosigkeit.

Schlussendlich erzählt dieses Buch die Geschichte einer erstaunlichen deutsch-albanischen Beziehung, die 1913 begann, als ein unbekannter Prinz aus Neuwied Fürst von Albanien wurde. Später tauchen unter anderem die Wehrmacht und Franz Josef Strauß auf, ist von Plänen für ein „Mallorca für DDR-Bürger“ die Rede, geht es natürlich auch wieder um Fußball. Schließlich verbindet man in der Bundesrepublik mit Albanien vor allem die „Schmach von Tirana“, als die DFB-Auswahl 1967 zum einzigen Mal in ihrer Geschichte in einer Qualifikation scheiterte. Da hat die DDR bessere Erinnerungen, denn in Tirana feierte sie einen der größten Erfolge ihrer Fußballgeschichte: die Qualifikation zur WM 1974.

Es gibt noch viel mehr zu erzählen aus und von Albanien. Von Günter Netzer, der erst zum Friseur sollte, ehe man ihn ins Land ließ. Von Gerd Müller, der eine heimliche Liebe in Tirana gehabt haben soll. Von Altin Rraklli, Igli Tare und Altin Lala, die ihr Glück in der Bundesliga suchten. Und nicht zuletzt von der erstaunlichen Liebe vieler Albaner zur deutschen Nationalmannschaft, die bis in die 1970er Jahre zurückreicht. Kann es da Zufall sein, dass just am Tag des WM-Finales 1990 fast 3.200 albanische Botschaftsflüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft von Tirana auf die Ausreise aus ihrem revolutionären Land warteten und gemeinsam mit dem Botschaftspersonal den dritten Stern bejubelten?

Erstes Kapitel: Albanien und ich

 

„Albania is fucked, I want to leave this country.“

Samuel ist 14 und hat die Schnauze voll. „Hier gibt es nichts, gar nichts. Was soll ich hier? Alles ist kaputt!“ Vater Astrit grinst gequält. Er kennt die Litanei seines Jüngsten. Während er im abgeschotteten Albanien von Enver Hoxha aufwuchs und sich die Freiheit erkämpfen musste, kennt Samuel nur das Albanien der Freiheit. Und das Gefühl, dass er keine Chance hat. Denn „Albania is fucked“.

Zwei Drittel aller Albaner unter 25 Jahren geht es wie Samuel: Sie wollen weg. Albanien, das sind tolle Strände, sagenhafte Bergkulissen, günstiges Leben, reichlich Sonne und spannende Aufbruchsstimmung. Aber auch Korruption, 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, politischer Stillstand und vor allem für gut gebildete junge Leute oft ein Leben jenseits aller Perspektiven. Astrit weiß das. Er würde seine Heimat trotzdem nie verlassen. Nun schüttelt er kaum merklich den Kopf, atmet tief durch und bricht mit einem schwungvollen „Kommt, lasst uns aufbrechen“ das Schweigen. Kurz darauf sitzen wir in seinem vollklimatisierten Auto und brettern hinunter in die Hauptstadt Tirana, in der ich gestern angekommen bin und die sich am frühen Septembernachmittag schon wieder in einen Glutkessel verwandelt hat.

Es war 1971, als ich zum ersten Mal von Albanien hörte. Ich war acht, und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielte in Tirana. Wenn ich mir die Presseberichte von damals anschaue, muss es ein aufregendes Abenteuer für die angehenden Europameister um Franz Beckenbauer gewesen sein. Albanien war der skurrile Sonderling im skurrilen Osten. Noch mehr als die Sowjetunion, noch mehr als die DDR, von der Springer-Presse immer in Tüddelchen geschrieben, und allemal mehr als Jugoslawien, wo die Wirtschaftswunderbürger gern zum Urlauben hinfuhren und so manch Fußball-Bundesligist seine Spieler herholte. Ich war zu jung, um die Aufregung über diesen winzigen Landstrich auf dem südlichen Balkan, so groß wie Brandenburg, zu verstehen.

Zehn Jahre später ging die Reise für das DFB-Team erneut nach Tirana. Gespannt hockte ich vor dem Bildschirm. Endlich Bilder aus Albanien! Ich sah Menschen im Publikum, die alle die gleiche Kleidung trugen. Das TV-Farbbild wirkte merkwürdig grau; wie eine Erinnerung an alte Schwarz-Weiß-Zeiten. Das Stadion erzählte von der wuchtigen Uniformität des Ostens und präsentierte Parolen in mir unverständlichen Worten. Inzwischen kannte ich sogar ein paar albanische Vereinsnamen. Luftëtari Gjirokastër war mein Liebling. Aber auch Partizani Tiranë, Naftëtari Qyteti Stalin, 31 Korriku Burrel oder Traktori Lushnjë klangen wie Fußball-Lyrik aus einer fremden Welt. Die lustigen Punkte auf dem „ë“ weckten meine Neugierde. Wie sprach man sie wohl aus?

Meinen ersten direkten Kontakt mit Albanien hatte ich 1985 in London. Da gab es einen stramm linken Buchladen irgendwo in Soho. Und in diesem Laden verkaufte man Anstecknadeln albanischer Fußballvereine. Ich war im Paradies und sackte die aus federleichtem Billigblech gefertigten Kostbarkeiten im Austausch gegen schwere Pfundmünzen ein. Nun hatte ich ein Stück Albanien daheim! Dann las ich von Enver Hoxha, Albaniens Alleinherrscher, den sie liebevoll „Xhaxhi Enver“ – Onkel Enver – nannten. Von seiner Abschottungspolitik, von seinen Brüchen mit Jugoslawien, der Sowjetunion, China, irgendwie allen. Dass fast jeder Albaner seinen eigenen Bunker hat, es aber keine Privatautos gibt. Dass die Menschen karg leben und trotzdem glücklich seien. In den 1980ern war Albanien das heutige Nordkorea. Alle redeten darüber, kaum jemand war je da gewesen. Denn Besuchervisa gab es kaum, und vom Flughafen in Tirana hoben jede Woche nur eine Handvoll Flieger ab.

Als 1989 die Mauern des Ostblocks fielen, blieben die von Albanien stehen. Hoxhas Reich der Bunker schien immun zu sein gegen den Freiheitsgeist der sozialistischen Völker. „Onkel Enver“ war da schon tot, seine einbalsamierte Leiche in einem „Piramida“ genannten Mausoleum in Tiranas Innenstadt aufgebahrt. Als auch Albanien im WM-Sommer 1990 aufbrach, quoll das Volk regelrecht heraus. Die Schiffe nach Italien waren schwarz vor Menschen. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen.

1992/93 schoss Altin Rraklli den SC Freiburg in die Bundesliga und brachte mit seinem Doppel-R und Doppel-L die Kommentatoren der „Sportschau“ zum Stottern. Ein geflüchteter Student aus Rrakllis Heimatstadt Kavaja hatte seiner Freiburger Zimmerwirtin von dem begabten Fußballkünstler erzählt. Die sagte es SC-Präsident Achim Stocker, der den Flügelflitzer nach Freiburg kommen ließ. Trainer Volker Finke war begeistert, und die Bundesliga hatte ihren ersten Albaner. Doch Rrakllis Geschichte endete traurig, denn die Gesundheit spielte nicht mit. Und so blieb er nur eine Episode, die symbolisch steht für Albanien: ganz viel Potenzial, ganz viel Tragik.

In den 1990er Jahren wurde Albanien zum Land im Wandel und Ringen mit sich selbst. 1997 wollte ich mir anschauen, wie es wirklich dort aussieht. Mario Kempes, argentinischer Weltmeister 1978, hatte gerade in Lushnja einen Trainerjob angenommen. „France Football“ brachte eine Reportage darüber, die mich überzeugte: Ich muss nach Albanien! Meine Reiseplanungen waren quasi abgeschlossen, als das Land erst zusammenbrach und dann explodierte. In einem windigen Zinssystem verloren Hunderttausende Albaner sämtliche Ersparnisse. Kempes saß nach einem Spiel in der Umkleidekabine und traute sich nicht raus, weil draußen der bewaffnete Mob tobte. Ich stornierte die Reise. Anschließend rutschte Albanien aus meinem Fokus und stand irgendwann nur noch als nostalgische Karteileiche auf meiner Reiseliste. Ein Skelett vergangener Träume.

Bis zum März 2019. Ein Buchprojekt, das ich als Lektor betreute, behandelte Ex-Jugoslawien und die dortige Fußball-Fankultur. Die Autoren luden mich ein, zur Recherche nach Montenegro mitzukommen. Als ich auf die Karte guckte, sah ich Albanien. Plötzlich sprang dieser uralte Traum wieder an. Die Detailplanung lief dann nicht mehr ganz so glatt, denn der Plan, vom montenegrinischen Podgorica nach Albanien zu radeln, ließ sich nicht realisieren. Am Ende flog ich direkt – und nur – nach Albanien.

Am 5. September 2019 traf ich in Tirana ein. Vor mir lagen vier Wochen, in denen ich radelnd das Land durchstreifen wollte. Menschen treffen, mir Geschichten und Geschichte erzählen lassen, checken, wie das wirklich so ist mit den Streunerhunden, die jeden Radler angeblich in die Flucht treiben. Mein roter Faden: der Fußball. Über ihn bekam ich Kontakte, er war mein Einstieg ins Gespräch. In den 1980er Jahren gingen prozentual zur Gesamteinwohnerzahl nirgendwo in Europa so viele Menschen zum Fußball wie in Albanien. Weit über 7.000 pro Spiel waren es damals – bei knapp drei Millionen Einwohnern. Der Sport wurde von der Politik gefördert und die Mannschaften von den Industriekombinaten finanziert. Am Wochenende trafen sich die Menschen in den Stadien, um Zerstreuung zu finden. Fußball war Alltagsflucht und ein Hauch heile Welt in einer verdammt kaputten Welt.

Albanien war ein perfider Überwachungsstaat mit einer unvergleichlich brutalen Geheimpolizei Sigurimi („Sicherheit“), in dem selbst die Bemerkung, man habe gestern im Dorfladen keinen Käse mehr bekommen, zur Verschleppung ins Arbeitslager führen konnte. Und weil vom Übertritt des Einzelnen stets dessen ganze Familie betroffen war, zog dies oft tragische Kreise.

Die stärkste Waffe des Unterdrückungssystems ist Angst. Sie wird erreicht durch totale Kontrolle. Und kein Regime war besser darin als Albanien. Nirgendwo waren die Menschen gleichgeschalteter, galten selbst winzige Abweichungen vom normativen Verhalten als gefährlich. Die Partei ließ keinerlei Raum für Individualität, verbot jeglichen Privatbesitz, reglementierte selbst den Wechsel des Wohnorts und untersagte Männern das Tragen von langen Haaren oder Bärten. Albanien war ein Volk in Geiselhaft – und die Fußballstadien gehörten zu den wenigen Orten, an denen sich die Menschen zumindest für einen Moment versammeln und frei atmen konnten. Zwar stand auch in den Kurven die Sigurimi mit ihren Agenten, doch in der Masse gab es winzige Möglichkeiten des gemeinsamen Protestes. Und so waren es die Fußballstadien, in denen der zaghaft köchelnde Aufstand des Volkes Ende der 1980er Jahre langsam Betriebstemperatur erreichte.

Gebracht hat es Albaniens Fußball nichts, denn heute ist der über vier Jahrzehnte verhätschelte Stolz von Partei, Volk und Nation kaputt. Sein Alltag heißt Korruption, dubiose Besitzverhältisse, marode Infrastruktur und bittere Gleichgültigkeit der Blick aus meiner Unterkunft Den Sozialismus in seinem Lauf … Einheimischen, die lieber Bundesliga, Serie A, Primera División oder Premier League gucken. Der Schnitt in der höchsten Liga lag 2018/19 bei 1.283 Zuschauern. Spitzenreiter war Partizani Tiranë mit 2.986, gefolgt von Lokalrivale Tirona mit 2.308; Schlusslicht der FK Kukësi, immerhin Europapokalteilnehmer, der durchschnittlich 633 Zahlende begrüßte, seine Heimspiele allerdings wegen Stadionumbau auch in Tirana austragen musste. 

 

 

Neuntes Kapitel: Müllers heimliche Liebe

Als ich frisch geduscht zurückkehre, läuft auf dem Restaurant-Fernseher eine Dokumentation über den albanischen Fußball. Ein uralter Schwarz-Weiß-Film erzählt Wundersames aus der Vergangenheit. Der Hotelbesitzer kommt hinzu und übersetzt. Es geht um die „Balkaniada 1946“ in Tirana. Der Gewinn des Balkanpokals wenige Monate nach Kriegsende ist bis heute der einzige internationale Erfolg der albanischen Nationalmannschaft. Enver Hoxha war gerade dabei, sein Land in eine sozialistische Volksrepublik zu verwandeln. Noch pflegte er Verbindungen mit Nachbar Jugoslawien und dessen Staatschef Tito, noch war der von ihm verehrte Stalin im ganzen Ostblock en vogue, noch glaubten die Albaner an eine rosige Zukunft und verehrten den Partisanenführer Hoxha. Das Fußballturnier war eine glänzende Gelegenheit, sich als guter Gastgeber zu präsentieren.

Kurz zuvor war das sowjetische Spitzenteam von Spartak Moskau zu einer Goodwill-Tour durchs Land gereist und hatte die Fans bei Spielen in Vlora, Shkodra und Tirana begeistert. Die wackeligen Filmaufnahmen zeigen Bilder vom Endspiel gegen Rumänien, das Albanien mit 1:0 gewann. Jubelnde, ausgelassene Fans, darunter erstaunlich viele Frauen und Kinder. Ein glückliches Volk, das nicht ahnt, dass es vor einem Zeitalter der Dunkelheit steht. Hoxha schaute in persona und als Riesenplakat von der Mittellinie aus zu. Der Fußballsieg hatte eine hohe Bedeutung für die Nationwerdung Albaniens, das zwei Jahre nach der Befreiung noch auf der Suche nach ethnischer und sozialer Einheit war. Fußball diente als effektives Hilfsmittel. „Auch heute erinnere ich mich an den albanischen Torschützen, Qamil Teliti“, sagt ein Zeitzeuge. „Als er das Tor geschossen hat, gab es im Stadion eine Euphorie und Begeisterung, als würde das komplette Stadion brennen.“ Albaniens Mannschaftskapitän war damals Loro Boriçi, nach dem heute das Stadion in Shkodra benannt und der so etwas wie der „Fritz Walter Albaniens“ ist. Als der Abspann kommt, notiere ich den Namen des Regisseurs. Andi Deçka. Ich will ihn bei meiner Rückkehr nach Tirana suchen gehen.

Die „Balkaniada“ war eine gemeinsame Propaganda-Veranstaltung der kommunistischen Balkanstaaten, um ihre geopolitischen Ziele auch im Sport zu unterstreichen. Der Kalte Krieg hatte begonnen, die Beschlüsse der Konferenz von Jalta, auf der die Alliierten im Februar 1945 die Neuordnung Europas festgelegt hatten, wurden umgesetzt. Mitten in Europa entstand ein Eiserner Vorhang. Für Albanien war das Turnier ein historisches Ereignis. Zum ersten Mal konnte das Wappen der Volksrepublik gezeigt werden! Das Nationalstadion in Tirana, dessen Bau 1938 mit italienischer Hilfe begonnen hatte, war pünktlich zum Turnierstart am 7. Oktober 1946 fertiggestellt worden und konnte mit dem Bruderduell gegen Jugoslawien (2:3) eröffnet werden. Dass ausgerechnet das kleinste der vier sozialistischen Balkanländer (neben Jugoslawien und Albanien noch Bulgarien und Rumänien) Gastgeber war, verdankte man Hoxhas damaligem Förderer Tito. Albaniens Trainer war der von Belgrad entsandte Ljubiša Broćić, der später noch für Juventus Turin und den FC Barcelona arbeiten sollte. Organisiert wurde das Turnier vom 21-jährigen Ramiz Alia, Sekretär der albanischen Jugendorganisation und später zweiter Mann nach Enver Hoxha bzw. nach dessen Tod 1985 sogar sein Nachfolger. Noch umgab den Alltag in Albanien eine gewisse Leichtigkeit und Freiheit. Erst als Hoxha 1948 mit Jugoslawien brach, war es damit vorbei. Mit Dodë Tahiri, Giacomino Poselli und Bahri Kavaja gerieten anschließend auch drei Akteure der Siegerelf von 1946 in Ungnade, musste der jugoslawische Trainer Broćić das Land verlassen.

Übergangslos flimmert die nächste Fußball-Doku über den Bildschirm. Sie handelt vom legendären 0:0 Albaniens gegen die DFB-Auswahl 1967 in der EM-Qualifikation. Das Hinspiel acht Monate zuvor hatte Deutschland 6:0 gewonnen. Ich sehe den jungen Helmut Schön, wie er über den Skanderbeg-Platz in Tirana spaziert. Staune über den Rumpelfußball der Vizeweltmeister von 1966. Sehe eine albanische Auswahl, die unter dem nunmehrigen Nationaltrainer Loro Boriçi ihr wohl legendärstes Spiel abliefert. Für Deutschland ist es die „Schmach von Tirana“, für Albanien der Beginn einer großen Leidenschaft für den Gegner. Im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik stand man fassungslos vor diesem armen und völlig abgeschotteten Land, das die DFB-Auswahl zum bis heute einzigen Mal bereits in der Qualifikation eines großen Fußballturniers scheitern ließ. Jahrzehnte später erinnerte sich Willi Schulz vom Hamburger SV gegenüber „Spiegel online“: „Ab der Landung in Albanien war Schmalhans Küchenmeister. Es gab kein Fleisch, nur Brot und Eier. Die kamen aus einem Eierkombinat. Rührei konnten sie – das gab es morgens, mittags und abends. Später sind wir in sozialistische und kommunistische Länder immer mit unserem eigenen Koch und jeder Menge Lebensmittel gereist.“ Über den Alltag in Tirana sagte er: „Ich erinnere mich, dass wir nur Fahrräder gesehen haben. Damals gab es fast noch keine Autos in Albanien. Viele ärmlich gekleidete Menschen, Frauen mit Ackergerät. Es fühlte sich an wie eine Reise zum Mond.“ Sein Kölner Teamkollege Wolfgang Weber ergänzte: „Das Hotel war das beste am Platz, keine Frage, und trotzdem unglaublich karg. Die Leute waren alle grün gekleidet und trugen diese Chinamützen. Überall lagen Mao-Bibeln herum, im Fernsehen liefen seltsame chinesische Soldatenfilme.“ Zum vorzeitigen EM-Aus hatte das Duo wenig zu sagen. Weber erinnerte sich, dass das Spielfeld „kein Rasen, eher eine Weide“ war, Schulz meinte: „Das Stadion war brechend voll. Die Zuschauer standen fast bis zur Seitenauslinie und haben jeden unser leider zahlreichen Fehlpässe höhnisch beklatscht. Das hat uns durchaus verunsichert.“

Nach dem Schlusspfiff spielten sich ergreifende Szenen ab. Die Albaner jubelten, als hätten sie den WM-Titel gewonnen. Ein torloses Unentschieden gegen den Vizeweltmeister war mehr, als sich jeder Auswahlspieler erträumt hatte. Einzig Panajot Pano, damals so etwas wie Albaniens Gerd Müller, war traurig, dass nicht noch mehr herausgesprungen war: „Zwei große Chancen hatte ich gegen die deutsche Abwehr. Pech, dass sie zu keinem Tor führten! Aber ich glaube, auch beim Vizeweltmeister hat man eingesehen, dass es nicht leicht ist, in Albanien zu gewinnen.“ Tatsächlich hatte den deutschen Fans der Atem gestockt, als Torwart Horst Wolter in einer Situation einen Schuss von der rechten Seite nur mit Glück zu fassen bekam. Aufgeregt reklamierten die Albaner, der Ball sei hinter der Linie gewesen, was die TV-Bilder durchaus bestätigen. Sehen konnte man das Spiel in der Bundesrepublik übrigens nur als Zusammenfassung am Montagabend zwischen 23.35 und 0.20 Uhr. Das war vielleicht ganz gut so, denn wie Bundestrainer Helmut Schön resümierte: „Alles ist recht unglücklich gelaufen.“

Die Arroganz, mit der man in der Bundesrepublik in die entscheidende Partie gegangen war, ist verblüffend. „Mit einem Sieg in Tirana sind wir unter den letzten acht dieser Europameisterschaft – jedes andere Ergebnis (Remis oder Niederlage) bedeutet das Aus für den Vizeweltmeister Deutschland“, hatte das „Sport-Magazin“ im Vorfeld doziert. Drei Wochen zuvor hatte das DFB-Team mit 0:1 in Rumänien verloren, war Bundestrainer Helmut Schön erstmals seit seinem Amtsantritt 1964 ernsthaft in die Kritik geraten. „Aber es geht in Tirana um mehr: um deutsches Fußballansehen“, hieß es weiter. „Wir dürfen nicht bloß 1:0 oder 3:2 gewinnen, wir müssen klar gewinnen und spielerisch überzeugen. (…) Helmut Schön hat noch nie einen Gegner leicht genommen. Bei ihm ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Was uns natürlich nicht hindert, Albanien als drittklassig einzustufen, gegen das alles andere als ein klarer Erfolg eine Sensation ist.“ Nach dem Spiel gab es eine harsche Abrechnung mit dem Team, ließ man auch das verletzungsbedingte Fehlen von Beckenbauer und Seeler nicht als Entschuldigung gelten. Im „Sport-Magazin“ („Gigantentöter Albanien“) kommentierte G. Rackow: „Beckenbauer hin, Seeler her, es ist doch einfach lachhaft, dass im deutschen Fußball kein Team zu bauen ist, das auch nach dem Ausfall von einigen Stammkräften sich im Fußball-Entwicklungsland Albanien behaupten könnte.“ „Bild“ formulierte es populistischer und forderte knackig: „Lasst doch mal den Merkel ran!“ Max Merkel stand mit dem 1. FC Nürnberg gerade auf Platz eins der Bundesliga.

„Sport-Magazin“-Chefredakteur Richard Kirn präsentierte derweil jenes Bild, das man in Deutschland damals von Albanien hatte: „Ich kann mir unter Albanien nichts vorstellen, und wenn ich Tirana höre, sehe ich immer nur jenes Foto vor mir, das man uns seit vielen Jahren zeigt: einen riesigen Marktplatz, das weiße Parlamentsgebäude mit den Fenstern, die so tot in der Sonne liegen, dazu der eine Polizist, der den Verkehr regeln würde, wenn es einen gäbe! Es gibt aber nur ein einzelnes Automobil, das unbeweglich in der Hitze verharrt. Ich weiß schon, so kann es eigentlich gar nicht sein, Menschen wird’s wohl auch geben, wo kämen denn sonst die 25.000 im Stadion her, aber so ein Foto prägt sich ein, bis man schließlich glaubt, es sei immer derselbe Polizist, und immer dasselbe Taxi, das auf jemanden wartet, der nicht kommt.“

Im Nachgang wird das Spiel von einer ungewöhnlichen Geschichte begleitet. Gerd Müller, der damals 21-jährige angehende „Bomber der Nation“, soll im einst von den Italienern erbauten Luxushotel „Hotel Dajti“ eine aufregende Nacht mit einer Angestellten verbracht haben. Die junge Frau, deren Name mit „Hojna“ überliefert ist, konnte jedoch nie ausfindig gemacht werden, und so ranken sich allerlei Gerüchte, aber keinerlei Belege um das angebliche Techtelmechtel zwischen dem deutschen Torjäger, der beim 0:0 unerwartet von Bundestrainer Schön auf die Bank gesetzt worden war, und einer albanischen Hotelangestellten. Im Grunde ist es ohnehin unvorstellbar. Albanien war 1967 ein Land voller Furcht vor der brutalen Geheimpolizei Sigurimi. Denunzierungen waren an der Tagesordnung, und die DFB-Auswahl dürfte pausenlos umringt gewesen sein von Spitzeln der Sigurimi. Sich unter diesen Umständen eine verbotene Nacht mit einem Fußballer aus dem Westen vorzustellen, fällt schwer. Zumal Kontakt zu Westlern lebensgefährlich war, denn es drohten die Verschleppung ins Arbeitslager und Kollektivstrafe für die gesamte Familie.

Als die DFB-Auswahl vier Jahre später in der EM-Qualifikation erneut nach Tirana musste und abermals im „Dajti“ abstieg, war Müller wieder dabei. Dass das Spiel drei Tage nach Valentinstag stattfand, mag als Wink der Romantik gedeutet werden. Müller spielte diesmal und schoss sogar das Tor des Tages beim mühsamen 1:0 der DFB-Auswahl. Danach soll der „Bomber“ auf weitere Begegnungen gegen albanische Teams gehofft haben, denn Touristen-Visa für Individualreisende gab es nicht. Vergeblich. Als es 1981 in der WM-Qualifikation endlich so weit war, hatte sich Müller bereits in den Fußball-Ruhestand verabschiedet.

Vier Jahre später soll er dem finnischen Pokalsieger HJK Helsinki einen Brief geschrieben haben, in dem er bat, für einen Tag unter Kontrakt genommen zu werden, um mit der Mannschaft zum Europapokalspiel nach Albanien zu fliegen. „I want to see my girlfriend“, soll Müller den erstaunten Finnen geschrieben haben. Helsinki wies die Bitte zurück, und so hat der Nationalstürmer, sofern die ganze Geschichte auch nur einen Hauch von Wahrheit enthält, die geheimnisvolle Hojna vermutlich nie wiedergesehen. Dass die Geschichte der möglichen heimlichen Romanze bekannt wurde, ist der finnischen Zeitung „Italethi“ zu verdanken, die 1985 darüber berichtete. Müller-Biograf Hans Woller erwähnt sie in seinem preisgekrönten Buch „Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball kam“ nicht.

In Albanien ist Gerd Müller bis heute eine Legende. In der Hafenstadt Durrës gab es sogar einen „Gerd-Müller-Fan-Club“, der sich der deutschen Nationalmannschaft und dem FC Bayern München verschrieben hatte. 1997 besuchte „Sport-Bild“ vor dem wegen der bürgerkriegsähnlichen Zustände nach Granada verlegten WM-Qualifikationsspiel Albaniens gegen Deutschland den damaligen Vorsitzenden Maxhuni Nazuni. 320 Mitglieder hatte der Fan-Club seinerzeit. Nazuni habe Helmut Schön und Gerd Müller 1971 am Rande der EM-Qualifikationspartie in Tirana kennengelernt, heißt es: „20 Minuten haben sie mit uns gesprochen,“ wird Nazuni zitiert. Im Juni 2001 berichtete die „Frankfurter Allgemeine“ erneut vom „Gerd-Müller-Fan-Club“, der zum Flughafen nach Tirana gekommen war, um die deutsche Nationalmannschaft vor einem WM-Qualifikationsspiel zu empfangen. „Herzlich Willkommen, liebe Freunde“, steht auf einem Plakat, das von jungen Mädchen und Jungen in die Kamera gehalten wird. Mittendrin DFB-Boss Gerhard Mayer-Vorfelder, der sich artig bedankt. Alles wirkt etwas inszeniert, und über die Hintergründe ist wenig bekannt. Von einem „Gerd-Müller-Fan-Club“ weiß heute niemand mehr in Albanien. Er scheint einfach verschwunden zu sein. So wie der „Bomber der Nation“ aus gesundheitlichen Gründen von der öffentlichen Bühne.

Das 2001er-Spiel zeigt nebenbei, wie sehr sich die große Fußballwelt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks verändert hatte. Hier die umschwärmten Reichen aus Deutschland, England, Spanien, Italien, dort der abgehängte Rest. „Ich habe hier 1983 ein Länderspiel bestritten. Die Albaner haben aus dem Stadion einen Hexenkessel gemacht. Das wird diesmal wieder so werden“, glaubte Teamchef Rudi Völler in der „FAZ“ und ahnte: „Die Albaner werden sich bis zur Erschöpfung ausgeben. Nur wenn wir dagegenhalten, können wir ein positives Resultat herausholen.“ Dem widersprach DFB-Pressesprecher Wolfgang Niersbach, der nüchtern feststellte: „Die Spieler wollen in den Urlaub. Der Trip nach Tirana löst null Interesse aus. Für die meisten Spieler ist es lediglich die letzte, unvermeidliche von rund 35 Dienstreisen in der auslaufenden Saison. Direkt nach Spielende wird das Team und der Begleitertross zum Flughafen hetzen, um auf dem Rhein-Main-Airport in Frankfurt/Main noch vor dem Nachtlandeverbot aufsetzen zu können.“
Deutschland gewann 2:0. Der Urlaub konnte beginnen. 

Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien

352 Seiten

17x24 cm

ca. 400 Farbfotos

ISBN: 978-3-96736-006-6