ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #34
Von Ost nach West -und wieder zurück
Die politische Geschichte der EM
(Von Dietrich Schulze-Marmeling)
In der Diskussion um eine europäische Meisterschaft der Nationalmannschaften ließen sich anfangs zwei Lager ausmachen: Uninteressiert bis ablehnend zeigten sich Nationen, die bereits internationale Erfolge gefeiert hatten, wie die Weltmeister Italien und Deutschland, aber auch Belgien, die Schweiz und die Niederlande. Zu den Einwänden zählten beispielsweise: Die Vorbereitung auf die WM-Turniere würde erschwert, ebenso der Aufbau neuer Teams zwischen den WM-Turnieren. Zudem werde der Wettbewerb zu Lasten von Freundschaftsspielen gehen, die damals noch ein großes Interesse erweckten und eine lukrative Einnahmequelle darstellten.
Die UEFA-Mitgliedsländer aus dem „Ostblock“ hingegen betrachteten die EM als große Chance, sich auf internationaler Bühne sportlich und politisch profilieren zu können. Pro und contra Europameisterschaft war also teilweise eine Ost-West-Frage.
Die Haltung der Sowjetunion zu den internationalen Institutionen des Fußballs hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg verändert. Lange Zeit waren die Sowjets vom „bürgerlichen“ Fußballbetrieb des Westens ferngeblieben. Seit 1925 verzichtete der Riesenstaat auf Länderspiele gegen FIFA-Verbände. Internationale Begegnungen fanden nur gegen politisch befreundete Teams der internationalen Arbeitersportbewegung statt.
Die sportpolitische Öffnung gegenüber dem Westen begann unmittelbar nach Kriegsende. Im November 1945 tourte Dinamo Moskau durch Großbritannien, um auf Einladung der britischen Regierung den gemeinsamen Sieg über den Faschismus zu feiern. Am 13. November 1945 wurde an der Londoner Stamford Bridge der erste internationale Auftritt einer sowjetischen Fußballmannschaft nach dem Zweiten Weltkrieg angepfiffen. Vor 85.000 Zuschauern trennten sich Hausherr Chelsea und Dinamo Moskau unentschieden. Im November 1946 bat der sowjetische Verband um Aufnahme in die FIFA. Mit dem Ende der organisierten internationalen Arbeitersportbewegung waren den Sowjets die Gegner ausgegangen.
Im Laufe der 1950er wurde die Führungsmacht des Ostblocks nun auch zu einem festen Bestandteil des europäischen Fußballsystems. Zugleich wurde der Fußball von den Folgen des Kalten Krieges in Europa heimgesucht. Die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands von 1956 hatte zur Folge, dass einige sich im Ausland befindliche ungarische Spitzenfußballer, u.a. der berühmte Ferenc Puskás, nicht in die Heimat zurückkehrten und bei Klubs im Westen anheuerten.
Die erste EM 1960 wurde vom „Kalten Krieg“ überschattet. Im Viertelfinale sollte es eigentlich zu einem „Ost-West-Showdown“ zwischen der sozialistischen UdSSRund dem vom faschistischen Diktator Franco regierten Spanienkommen. Am 26. Mai 1960 fanden sich die Selección und ihr argentinischer Nationaltrainer Helenio Herrera auf dem Madrider Flughafen ein. Zwei Stunden vor dem Abflug nach Moskau ereilte die spanischen Offiziellen die Nachricht, dass die politische Führung ihres Landes einen Boykott der Begegnungen mit den Sowjets angeordnet habe. Als der aufgebrachte Alfredo Di Stéfano nach dem Grund fragte, erhielt er als Antwort lediglich „Befehl von Vega“ - womit der spanische Innenminister gemeint war.
Die französische Presseagentur AFP schrieb tags darauf unter der Überschrift „Fußballländerspiel fällt Kaltem Krieg zum Opfer“: „Der spanische Innenminister General Vega hat, unterstützt vom Informationsminister Salgado, Franco auf die Folgen eines solchen Vergleichs aufmerksam gemacht. Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung beim Rückspiel sei das entscheidende Argument gewesen, demzufolge sich Franco für ein Verbot entschieden habe.“ Auch eine kurzfristig anberaumte Audienz von Verbandspräsident Lafuente Chaos bei Franco konnte die Herrschenden nicht umstimmen. Spanien unterhielt keine diplomatischen Beziehungen mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Staaten. Schon die Achtelfinalbegegnungen mit Polen hatten Franco nicht gerade begeistert.
Die UEFA versuchte zu vermitteln. Schließlich drohte das Ansehen des neuen Wettbewerbs bereits bei seiner Premiere schweren Schaden zu erleiden. Auch stand die Handlungsfähigkeit der UEFA im gespaltenen Europa zur Disposition. Beiden Verbänden wurde die Austragung der Spiele auf neutralem Boden angeboten. Die spanische Regierung stimmte dem Vorschlag zu. Nicht so die Sowjetunion, denn für sie bestand ja die Alternative im kampflosen Einzug in die Endrunde. Dazu kam es dann auch, denn die UEFA disqualifizierte Spanien und verurteilte den spanischen Verband zu einer Geldstrafe in Höhe von 2.000 Schweizer Franken. In der europäischen Sportöffentlichkeit traf das Verhalten des Franco-Regimes auf wenig Verständnis. Zumal es auch noch den Verzicht auf die Austragung der Endrunde bedeutete, an der Madrid Interesse gezeigt hatte.
Im Achtel- und Viertelfinale mobilisierte das erste Turnier ein durchaus ansehnliches Zuschauerinteresse. Die 24 Spiele bis zur Endrunde (einschließlich der beiden Qualifikationsspiele) wurden von insgesamt 1.035.175 Zuschauern besucht, was einem Schnitt von 43.132 pro Spiel entsprach. Dabei war das Interesse im Osten deutlich stärker als im Westen, insbesondere in der Sowjetunion, Ungarn, Polen und Rumänien. Zu den fünf Heimspielen in diesen Ländern kamen addiert 377.500 Zuschauer, also im Schnitt 75.500. Die höchsten Zuschauerzahlen wurden bei den Achtelfinalbegegnungen zwischen der UdSSR und Ungarn verzeichnet: 100.500 in Moskau und 78.000 in Budapest übertrafen bei Weitem die Erwartungen der „Macher“ des Wettbewerbs. Polen gegen Spanien sahen 71.000 Zuschauer in Kattowitz, die beiden Heimspiele Rumäniens wurden in Bukarest von 67.000 bzw. 61.000 besucht.
Die Zuschauerresonanz bei der Endrunde war dagegen eine große Enttäuschung. Im Schnitt kamen 19.739 pro Spiel. Frankreich war der falsche Austragungsort. Drei der vier Endrundenteilnehmer kamen aus dem „Ostblock“ und brachten kaum Anhänger mit. Bei den Franzosen weckten diese Teams nur wenig Interesse. DFB-Funktionär Hans Körfer: „Wer konnte auch ahnen, dass Fußball-Paris sich nicht einmal für die Begegnung UdSSR - Jugoslawien interessieren würde, die in Moskau und Belgrad ausverkaufte Häuser gebracht und jedes große deutsche Stadion bis zum Platzen gefüllt hätte?“
1964 war Spanien Austragungsland der Endrunde. Bei deren zweiter Auflage war das Mitwirken der Sowjetunion für das Franco-Regime kein Problem, sondern ein willkommener Anlass zur Image-Korrektur. Spanien war von der Marshallplanhilfe für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Westeuropa ausgeschlossen geblieben und hatte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst eine Autarkiepolitik betrieben, die ein Absinken des Lebensstandards zur Folge hatte. Ab Mitte der 1950er hatte sich das Land, auf Drängen und mit Unterstützung der USA, die auf der iberischen Halbinsel strategische Interessen verfolgten, allmählich dem Weltmarkt geöffnet. 1962 setzte ein wirtschaftlicher Aufschwung ein, und Spanien vollzog den endgültigen Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Zugleich versuchte sich das Franco-Regime vom Makel des rechten Parias zu befreien. Für die Imagepflege kam die Endrunde des Nationencups zum richtigen Zeitpunkt.
Die Finalpaarung Spaniengegen UdSSR entsprach den Wünschen vieler Fußballexperten. Der spanische Verband und die UEFA bemühten sich, das Ereignis auf ein reines Fußballfest zu reduzieren. Rund um das Estadio Santiago Bernabéu patrouillierten Polizei und Guardia Civil. Die spanische Presse, ansonsten alles andere als zimperlich mit ausländischen Gegnern, rief zu Besonnenheit und Fairness im Umgang mit den Sowjets auf. Gegenüber der Ehrentribüne, auf der natürlich auch Diktator Franco saß, flatterte sogar die rote Sowjet-Fahne.
Nach dem 2:1-Sieg der Hausherren gab das regimetreue Spanien seine diplomatische Zurückhaltung auf. Die konservative Zeitung ABC veröffentlichte einen Cartoon, auf dem Franco zu sehen war, wie er dem spanischen Team mit den Worten gratulierte: „Sie und ich haben sich als Sieger erwiesen. Wir haben beide die Roten geschlagen.“ Für ABC war die Begeisterung im Stadion und auf Madrids Straßen Ausdruck des „größten Enthusiasmus“, den das Volk „dem Staat, der aus dem Sieg über den Kommunismus hervorging, in diesem Vierteljahrhundert entgegengebracht hat“.
Die Finalrunde 1964 in Spanien mobilisierte bereits ein größeres Interesse, vor allem bedingt durch den Siegeszug des gastgebenden Teams. Erstmals waren auch die Engländer vertreten, die allerdings bereits in der Vorrunde scheiterten. Auch Italien gab beim zweiten Durchgang seinen Einstand, sodass von den fünf großen Ländern Westeuropas nun vier dabei waren. Nur die Bundesrepublik Deutschland verharrte noch in der Schmollecke.
Bei der dritten Auflage 1968 waren dann erstmals alle bedeutenden europäischen Fußballnationen an Bord, nachdem auch die Bundesrepublik ihre Abstinenz aufgegeben hatte. Die Endrunde in Italien sah mit fast 40.000 den bis dahin höchsten Zuschauerschnitt.
Die EM blieb bis 1976 ein Wettbewerb, in dem die sozialistischen Staaten eine große Rolle spielten. Allein die Sowjetunion stand bei den ersten vier Wettbewerben dreimal im Finale. Von den 20 Endrundenteilnehmern 1960 bis 1976 waren elf Teams aus der „sozialistischen Welt“. Zweimal – die Sowjetunion 1960 und die Tschechoslowakei 1976 – stellten diese Länder den Europameister, dreimal – Jugoslawien 1960, die UdSSR 1964 und 1972 – den Vize-Europameister. Das EM-Finale 1980 war das erste überhaupt, das ohne ein Team aus der „sozialistischen Welt“ stattfand.
Die EM 1988 war die letzte vor dem Zusammenbruch des „Ostblocks“, der die politische und staatliche Landschaft Europas gravierend verändern sollte – und damit auch die Mitgliederzahl und -struktur der UEFA. Für das Turnier 1992 beispielsweise hatte sich die Sowjetunion zwar sportlich qualifiziert, existierte allerdings beim Anpfiff der Endrunde nicht mehr, und ihr Restbestand trat als GUS an. Auch die Tschechoslowakei war 1992 letztmalig mit einem gemeinsamen Team dabei, während Jugoslawien komplett in die Röhre schaute. Knapp drei Wochen vor dem EM-Start warf der jugoslawische Coach Ivica Osim das Handtuch. Persönliche und interne Gründe nannte der ausgebildete Mathematiklehrer. Bekannt war aber auch, dass Osim, der als Kroate aus dem bosnischen Sarajevo stammte, wegen des Bürgerkriegs auf dem Balkan politisch unter Druck geraten war. Als neuer Coach der Jugoslawen reiste Ivan Cabrinović nach Schweden. Immer wieder wurde dort das Mannschaftsquartier von Demonstranten heimgesucht, die Jugoslawien bzw. die groß-serbischen Kräfte in Belgrad für den Balkankrieg verantwortlich machten.
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Albanien. Das unbekannte Fußball-Land
Noch vor dem Anpfiff des Turniers verhängte der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Jugoslawien, die auch einen Sportboykott beinhalteten. UEFA und FIFA reagierten prompt, schlossen die Jugoslawen zehn Tage vor dem Start der EM vom Turnier aus und nahmen sie auch aus der Qualifikation für die WM 1994. „Wir können nicht länger so tun, als sei nichts geschehen. Immerhin repräsentiert diese Mannschaft Restjugoslawien, und wir müssen der politischen Wahrheit ins Auge sehen“, kommentierte UEFA-Präsident Lennart Johansson den Ausschluss. „Wir sind doch keine Mörder, wir wollen nur Fußball spielen“, erwiderte Dejan Savićević, Nationalstürmer der Jugoslawen und mit damals 27 Länderspiel-Einsätzen einer der erfahrensten Spieler.
Nutznießer dieser Entwicklung waren die Dänen, die in der Qualifikation hinter Jugoslawien den zweiten Rang belegt hatten, jetzt nachrücken durften und Europameister wurden.
Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei führte zu einem erheblichen Anstieg in der UEFA-Mitgliedschaft, denn zu den ersten souveränen Akten der neuen Staaten gehörte es, einen nationalen Fußballverband zu gründen und die Aufnahme in die internationalen Fußballverbände zu beantragen. Anstelle des alten UdSSR-Teams meldeten nun die Nationalmannschaften Russlands, Weißrusslands, Moldawiens, Estlands, Lettlands, Litauens, Armeniens, Georgiens, Aserbaidschans und der Ukraine für die EM 1996; und anstelle der ehemaligen Tschechoslowakei liefen die Nationalteams von Tschechien und der Slowakei auf. Das ehemalige Jugoslawien schickte Mazedonien, Kroatien und Slowenien ins Rennen, später kamen noch Rest-Jugoslawien (ab 2003: Serbien-Montenegro, ab 2006 dann Serbien und Montenegro) und Bosnien-Herzegowina hinzu. Alles in allem wurden im Zeitraum 1992 bis 2006 aus ehemals drei Nationalteams 19. Einen Abgang hatte die politische Entwicklung in Europa allerdings auch zu vermelden: Mit der DDR verschwand deren Nationalmannschaft.
Im Januar 2007 wurde der ehemalige französische Weltklassespieler Michel Platini zum neuen UEFA-Präsidenten gewählt. Zu den ersten Gratulanten gehörte Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac. Platinis Wahl würde „das Strahlen des französischen Sports in den internationalen Instanzen verstärken“, meinte Chirac. Die Zeitung Le Parisien spürte „einen Wind der Erneuerung durch die Fußballwelt wehen“. Denn Platini präsentierte sich als Anwalt der kleineren Fußballnationen.
DFB-Präsident Theo Zwanziger belächelte Platinis Vorstellungsrede als „Sozialromantik“ und behauptete, am Jubel nach der Wahl habe man gesehen, „dass Platini Stimmen aus Ländern bekommen hat, die nicht einmal 100 Einwohner haben“. Tatsächlich kamen viele der Platini-Befürworter aus den kleineren Nationen des Ostens und Südens, wenngleich diese keineswegs geschlossen für den Franzosen stimmten.
Platinis Gegner saßen aber nicht nur im DFB, sondern auch in den Verbänden Englands und Spaniens. Auch die 18 in der G-14 organisierten reichen und führenden Klubs Europas versuchten, einen UEFA-Boss Platini zu verhindern. Für Platini stimmten 27 Verbände. 23 waren gegen ihn, zwei der zu diesem Zeitpunkt 52 UEFA-Mitglieder gaben ungültige Stimmzettel ab. Bereits am Vorabend der Abstimmung war es erstmals seit 15 Jahren wieder zu einem Treffen der osteuropäischen Verbände gekommen. Dazu waren Vertreter von 24 Verbänden erschienen, was ein englischer Delegierter mit den Worten kommentierte: „Die UEFA rückt nach Osten.“
Der europäische Fußball erfuhr die Kopie eines Prozesses, den der Weltverband FIFA bereits mehr als 30 Jahre zuvor durchlebt hatte. Als Folge der De-Kolonialisierung und der Gründung neuer Nationalstaaten hatte die Zahl der FIFA-Mitglieder in Afrika und Asien drastisch zugenommen.
Am 18. April 2007 vergab das Exekutivkomitee erstmals eine EM „neuen Formats“ nach Osteuropa, genauer: an die Ukraine und Polen. Abgesehen vom EM-„Vierer-Turnier“ 1976 in Jugoslawien waren Ost- und Südost-Europa bei der Vergabe großer Turniere bis dahin unberücksichtigt geblieben. Die Entscheidung pro Osteuropa war auch eine politische. Auch im Osten Europas entstanden nun moderne Stadien, und im Westen Europas erweiterte sich das öffentliche Interesse am Fußball geografisch in Richtung Osten.
Dieser Text stammt aus Ausgabe #33
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