ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #33

 Vom Glück, Fan eines kleinen Vereins zu sein

(Von Hardy Grüne)


Fanliebe kennt keine Liga. Auch in unteren Spielklassen gibt es Fankultur, die mehr oder weniger an Vorbildern der Bundesliga orientiert ist. Alles läuft etwas kleiner und beschaulicher ab, doch in Intensität und Engagement unterscheidet sich die Fanwelt nicht von der bei großen Klubs. „Glaube, Liebe, Hoffnung“ sind wie im großen Fußball integrale Bestandteile des Fandaseins. Und trotzdem läuft es im unterklassigen Fußball anders. Weder sind die Strukturen zu vergleichen noch die Akzeptanz im eigenen Ort bzw. bei den Gegnern, die häufig keine eigenen Szenen aufweisen. Dazu kommen kürzere Anfahrtswege zu Auswärtsspielen sowie eine naturgemäß überschaubare Personenzahl, die nichtsdestotrotz vor allem bei Auswärtsspielen in kleineren Orten für erhebliche Verwirrung sorgen kann. Demgegenüber stehen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten, die in der Bundesliga undenkbar sind und dem Fandasein im unterklassigen Fußball seinen Reiz verleihen. 


Mit meiner Vereinswahl stehe ich sicher nicht in Verdacht, ein Erfolgsfan zu sein. Dreimal wählte ich mir spätere „Lieblingsklubs“ aus, und dreimal kamen sie aus dem Topf „unbekannte Mitläufer“. Zum ersten Mal griff ich 1974 hinein und zog Göttingen 05. Damals noch stolzer Zweitbundesligist, der 1975 in meinem Beisein Borussia Dortmund mit 3:0 aus dem Jahnstadion fegte. Wie wenig wusste ich von der Tragik, die mich an diesen Verein fesseln sollte. Als ich in den 1980er Jahren England kennen- und liebenlernte, war es nicht zuletzt der Fußball, der mir die Tür zur britischen Seele öffnete. Am 9. September 1993 kam ich nach Bath, wo damals die Bristol Rovers mangels eigenem Stadion spielten. Es war Liebe auf den ersten Blick, und seitdem pendle ich mit den „Pirates“ zwischen dritter und fünfter Liga. Auch nicht so Bombe. Ein Arbeitsaufenthalt in der Bretagne schenkte mir 1995 schließlich meine dritte Fußball-Liebe: En Avant de Guingamp. Mit dem Verein erlebte ich tatsächlich einige Erfolge (zweimal Pokalsieger) und spielte sogar international (u.a. bei Dinamo Kiew), stürzte aber auch in die Drittklassigkeit ab und verbrachte viel zu viele Jahre im tristen Mittelmaß der zweiten Liga. 


Trotz überschaubarer Erfolge habe ich sie immer geliebt, die Welt unterhalb des Glitzerfußballs. Denn bei allen Tragödien, auf die man vorbereitet sein sollte, hat sie unschlagbare Vorteile. Allen voran Nähe, Gestaltungsmöglichkeit und Teilhabe. Wenn ich zur Bundesliga gehe, und das tat ich jahrzehntelang regelmäßig, bin ich Zuschauer. Einer von vielen. Gehe ich zu 05, bin ich Beteiligter. Einer von wenigen. Als wir 1981 mit ein paar Fans an einem Dienstagabend zum Auswärtsspiel bei Alemannia Aachen fuhren, die seinerzeit weiteste Auswärtsfahrt der Saison (der DFB war also auch damals schon fix mit fanunfreundlichen Ansetzungen), kamen wir nach dem Spiel nicht mehr nach Hause. Also lud uns Trainer Helmut Latermann ein, im Mannschaftsbus mitzufahren. In den 1980er Jahren war es dann Tradition, nach Saisonende gemeinsam mit der Mannschaft einen Grillabend zu veranstalten. Mehr als einmal entwickelten sich daraus Freundschaften zwischen Spielern und Fans – wo gibt es das in der Bundesliga? 


In den 1990er Jahren ging es wirtschaftlich und sportlich bergab mit dem Verein. Es waren anstrengende, desillusionierende Jahre. Zugleich gehörten sie zu den intensivsten meiner Fankarriere. Denn wir Fans gestalteten zunehmend mit. Über das Fanzine „Der Schlafende Riese“ entstand eine Szene, die sich innerhalb und außerhalb des Vereins einbrachte. Wir organisierten einen Fan-United-Day nach englischem Vorbild, um auf die strukturellen Probleme im Fußball unterhalb des Profilagers aufmerksam zu machen. Wir protestierten gegen die unsäglichen Ligareformen des DFB, die zunehmende Zerstückelung der Anstoßzeiten in der Bundesliga, die den Amateurklubs immer weniger Luft zum Atmen ließ, die zweiten Mannschaften und überforderte Ordner auf dem Dorf. Es fühlte sich stark an, nicht nur zuzuschauen, sondern mitzugestalten. Und im eigenen Verein Mitspracherecht einzufordern. Einem allzu desaströs agierenden Vorstandsmitglied empfahlen wir vehement (und erfolgreich), sein Amt niederzulegen und stattdessen golfen zu gehen. In einer von der örtlichen Sparkasse angestoßenen Fusionsdebatte sorgten wir für Aufklärung der Hintergründe und verhinderten damit ein Konstrukt, von dem einzig und allein die Sparkasse profitiert hätte. 


Zugleich war es ein ständiges Balancieren auf dem Hochseil. Göttingen 05 war ein Traditionsverein mit renommierter Geschichte, und die Erwartungshaltung von Fans, Medien und Unterstützern war stets groß. „Wir müssen wieder dahin, wo wir mal waren“, hieß es in Dauerschleife. Das übliche Übel eines abgestürzten Spitzenvereins. Als Fans, die wir verstärkt in die Vereinsarbeit eingebunden wurden (bzw. uns selbst einbanden) und Einblicke in die wirtschaftlichen Realitäten erhielten, begriffen wir allmählich, wie utopisch der Wunsch nach Rückkehr in den „großen Fußball“ tatsächlich war. Die Welt hatte sich weitergedreht. Der Profifußball war zur exklusiven Bühne geworden, zu der ein ehrenamtlich geführter Halbprofiklub wie Göttingen 05 mit einem Zuschauerpotenzial von maximal 5.000 und ohne finanzkräftigen Geldgeber keinen Zutritt mehr bekam. 


Eine Neuorientierung war nötig. Wir wollten nun ein Verein für die Region sein und deren Potenzial sowohl bei den Zuschauern als auch bei den Talenten, die zumeist Richtung 96 und Braunschweig entschwanden, heben. Gelegentlichen Höhepunkten mit Spielen gegen Hannover 96 oder Eintracht Braunschweig musste ein überlebensfähiger Alltag gegen Bückeburg, Heeslingen oder Einbeck gegenüberstehen. Eine schwierige Gratwanderung, an der der Klub schließlich zerbrach. Es war ausgerechnet das Geld, das ihm das Genick brach. Denn das war gerade mal da - durch eine Verbindung zu Kinowelt-Chef Michal Kölmel, der einst in Göttingen studiert und die alten Träume von der Rückkehr „nach oben“ reaktiviert hatte. Doch dann war es plötzlich auch schon wieder weg, stand da stattdessen ein mächtiger Schuldenberg, weil Kölmels „Kinowelt“ in die Pleite schlitterte, ausgerechnet, während Göttingen 05 Holstein Kiel vor 7.000 Zuschauern aus dem Stadion fegte und sportlich in die dritte Liga zurückkehrte. „Wir sind wieder da!“, jubelten wir, und schrien „Die Legende lebt!“. Als ich nach dem Spiel ins VIP-Zelt kam und mich der Chef der Sparkasse, dem wir die Fusion verdorben hatten, spöttisch angrinste, wusste ich Bescheid. Tatsächlich bekam der Verein keine Drittligalizenz, weil niemand in Göttingen für eine läppische Bürgschaft über ein paar zehntausend Euro bereitstehen wollte. Die kleine Göttinger Finanzwelt hatte sich gerächt und dem Göttinger Fußball die wohl größte Chance auf Etablierung im „halbgroßen“ Fußball genommen. 


Es war eine bittere Lektion in Sachen Realität. Wenn Fans ihre Vereine übernehmen, wird das in der Wirtschaft nicht gerne gesehen. Zwei Jahre später senkte der Insolvenzverwalter den Daumen über den 98-jährigen 1. SC von 1905 Göttingen, der aus dem Vereinsregister gestrichen wurde. Auf Faninitiative entstand der 1. FC 05, der kurz darauf mit dem RSV Geismar, viele Jahre Jugend-Kooperationspartner des alten 1. SC 05, fusionierte. Als RSV Göttingen 05 starteten wir in der achten Liga. Verwandelten den kleinen RSV-Geismar-Sportplatz an der Benzstraße in eine Trutzburg und Heimat. Stehtraversen wurden in Eigenarbeit geschaffen, der Merch landete in Fanhänden, die Stadionzeitung produzierten wir selbst und bei Achtligaspielen in Hilkerode, Nesselröden oder Amelsen warben wir mit einer fröhlichen und lautstarken Fanszene für Verein und Umfeld. „05 ist die Fußballstadt“ lautete ein beliebter Fangesang – tatsächlich ist Göttingen seit langem eine Basketballstadt. Bei Spielerverpflichtungen erwies sich das Fanengagement regemäßig als Zünglein an der Waage. Denn die Aussicht, vor einem „richtigen“ Publikum zu spielen, sorgte mehr als einmal für den Ausschlag zugunsten von 05, obwohl andere Klubs mit mehr Geld lockten. „Nur hier kann ich vor richtigen Fans spielen“, begründete ein Spieler seinen Wechsel zu 05. 


Das Dilemma begann, als die ersehnte Rückkehr in die 5. Liga (Oberliga Niedersachsen) glückte. Da war sie wieder, diese unüberwindbare Finanzmauer, an der es kein Vorbeikommen gab. Während Ligakonkurrent BV Cloppenburg mit einem Millionenetat hantierte, liefen wir uns in Göttingen die Hacken ab, um irgendwie den Minietat von 120.000 Euro pro Saison einzusammeln. Drei Jahre ging es gut, dann schien der freiwillige Rückzug in die Landes- oder gar Bezirksliga unvermeidlich zu sein. Fünftligafußball war einfach zu teuer. Aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Investor auf, der Göttingen 05 in die 3. Liga zurückbringen wollte. „One team, one dream“ propagierte er. Forderte zugleich die Herauslösung der Leistungsfußballer aus dem RSV 05 und die Neugründung des 1. SC 05. Die Fanszene war gespalten. Die einen sahen die Verlockungen der Regionalliga und träumten von der 2. Bundesliga. Die anderen erinnerten sich an die ständigen Turbulenzen der alten 1.-SC-05-Vergangenheit und an viel zu viele potenzielle Geldgeber mit großer Klappe und wenig Geduld. 


Zu erleben, wie eine über Jahre gewachsene, selbstverantwortliche Fanszene zerbricht, weil jemand mit dem großen Geld wedelt und von „Aufstieg“ redet, gab mir den Rest. Ich stieg aus, als der alte 1. SC 05 tatsächlich neugegründet wurde und es in Göttingen plötzlich zweimal 05 gab: den RSV 05 und den 1. SC 05. Letzterer durchlitt schwere Jahre, in denen vieles von dem, was seit der Insolvenz 2003 aufgebaut worden war, zerbrach. Neben mir gingen weitere langjährige Fans von der Stange. Andere wiederum bissen sich durch und sind heute in verantwortlicher Position für einen Verein tätig, der sich mit Fug und Recht „fangeführt“ nennen darf. Ihnen gilt mein aufrichtiger Respekt für Geduld, Hartnäckigkeit sowie Engagement. 


Vielleicht ist das der Nukleus des Fandaseins unterhalb der Glitzerebene: das Geld ist überschaubar, die Erfolge auch und die Zahl der Mitstreiter sowieso. Der Fokus fällt überschaubarer aus, Bedürfnisse und Sehnsüchte ebenfalls. Die Wege sind einerseits kürzer, andererseits finden sich engagierte Anhänger aber auch erheblich schneller in konkreter Verantwortung wieder. Denn die anonyme Masse des großen Fußballs, in der man als Fan abtauchen kann, gibt es nicht. Wenn es passieren soll, muss man es selbst machen. 
Denn Amateurfußball, das ist „mitten drin, statt nur dabei“. 


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Fußballmüde? Nein! 

Wie ich die Liebe zum Fußball im Unterbau wiederfand 

(Von Dietrich Schulze-Marmeling) 

 

Ich bin müde. Anfangs dachte ich: komplett fußballmüde. In den letzten 50 Jahren einfach zu viel Fußball konsumiert. Und jeden Morgen diese Meldungen auf dem Frühstückstisch: Wer kommt, wer geht, wer möglicherweise kommt, wer möglicherweise geht, wessen Stuhl wackelt, wer als Nachfolger im Gespräch ist, Hamann sagt, Matthäus sagt, Vogts sagt, Hoeneß sagt, jetzt sagt wieder Hamann, dann Matthäus….Und es bleibt ja nicht bei der Morgenzeitung. Im Netz geht es den ganzen Tag über weiter. 

Champions League schaue ich mir nur noch in der Zusammenfassung an. Also im ÖRF. Bundesliga? Reicht mir die Grundversorgung durch ARD-Sportschau und ZDF-Sportstudio – also auch hier ÖRF. Nationalmannschaft, Länderspiele? Früher habe ich mich in die Trainer- und sonstigen Personaldiskussionen gestürzt – heute bin ich von diesen nur noch gelangweilt. Dem Kern des Problems verweigert man sich ja unverändert. 

Und dann die periodischen Rufe nach mehr Geld. In der „Corona-Krise“ hieß es noch, man müsse das Geschäftsmodel überprüfen und hinterfragen. Neues Denken sei gefordert. Besserung wurde gelobt. 


Und? Was ist passiert? Nix. Doch! Die Liga diskutiert über einen Investor. Und wir wissen schon jetzt, dass man in spätestens drei Jahren darüber reden wird, wo und wie man die nächste Geldquelle erschließen könnte. Mehr wird dem Fußball nicht einfallen. 

Nein, ich bin nicht komplett fußballmüde. Es ist nur dieser „ganz große“ Fußball, der mich zusehends langweilt bis abstößt. 


Ich sitze jetzt weniger vor dem Fernseher, bin dafür wieder mehr auf den Fußballplätzen. Dies begann bereits während der WM 2022. Das Turnier mochte ich nicht schauen (Katar!), aber die Regionalligen und die Amateurklassen spielten ja noch. Die Frauen ebenfalls. Während der WM habe ich sieben oder acht Spiele live gesehen. Regionalliga, Oberliga, Kreisliga, Jugendspiele. Alles in der Region. Alles mit dem Fahrrad angefahren. 

Klar, irgendwann werde ich auch mal wieder zum BVB gehen. Mein letzter Besuch im Westfalenstadion ist schon einige Jahre her. Ich glaube, es war ein 3:3 gegen Paderborn. Ich war anschließend extrem genervt. Die Menschen um mich herum rannten ständig aufs Klo oder zum Bierstand, die Gespräche drehten sich nur teilweise um Fußball. Und wenn, dann reduzierten sie sich aufs Nörgeln über irgendwelche Spieler etc. 


Besuche beim BVB sind für mich nur noch Event. Mal wieder „großen Fußball“ sehen. In einem großen Stadion. Aber nicht mehr als Fußballalltag, nicht mehr jedes Wochenende. Vielleicht wär’s ja ein bisschen anders, würde ich in Dortmund leben. Ich mag auch die ganz großen Stadien nicht mehr. Vor einigen Monaten habe ich Verwandtschaft mit ins Stadion von Preußen Münster genommen. Zuvor hatte diese Spiele in Hannover und Dortmund gesehen. Kommentar: „Eigentlich ist Fußball in so einem kleineren Stadion viel netter.“ Das war noch in der Regionalliga, die Preußen empfingen Wuppertal, Münsters „Antikarena“ war mit 9.000 bis 10.000 Zuschauer gut gefüllt. In so einem Stadion bekommt man vom Spiel und der Atmosphäre mehr mit als im riesigen Westfalenstadion. Auch die Kommunikation auf den Rängen ist eine andere. 


Ist das jetzt Fußball-Romantik? Nein. Romantik mag ich nicht. Hat häufig auch wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Und früher war auch nicht alles besser. 


Es ist mehr eine Sehnsucht nach mehr Normalität. Nach weniger Hype. Nach weniger Hype um Transfers und Transfersummen, Personalrochaden etc. Nach weniger „Klick“-Fußball. Nach mehr Inhalten. Nach mehr Reden über Fußball. Über Fußball. 

Fußball ist das Spiel meines Lebens. Aber Fußball ist zu groß geworden. Und dies auf eine falsche Art. 


Aber es gibt ausreichend Fußball jenseits der Gigantomanie. Um das Wochenende muss ich mir also keine Sorgen machen. 


Mein Programm für die Rückrunde: Heimspiele der Preußen-Profis (3. Liga), Heimspiele der U23 des Klubs (Oberliga), das eine und das andere Spiel des Preußen-Nachwuchs. Dazu Heimspiele meines Heimatvereins TuS Altenberge (Kreisliga A). Dann will ich mir mal ein Heimspiel von Babelsberg anschauen (Regionalliga). Außerdem habe ich noch eine Einladung zu einem Heimspiel des VfL Osnabrück. In Bremen ist es auch noch nett. Altona 93 muss unbedingt erledigt werden, bevor die Adolf-Jäger-Kampfbahn schließt. In der 3. Liga finde ich Unterhaching sehr spannend. Ein Spiel der Bundesliga der Frauen sollte ich auch endlich schaffen. Ich sehe schon. Den Besuch eines Spiels des BVB muss ich auf die nächste Saison verschieben… 


Ich denke, dass ich auf etwa 30 Spiele kommen werde. Von wegen fußballmüde… 

Dieser Text stammt aus Ausgabe #33

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