ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #31
Der Pokal und seine Sensationen
Die große Bühnen für die Kleinen
(Von Hardy Grüne)
Wer würde Eppingen kennen? Wer Weinheim, Vestenbergsgreuth, Grimma, Velten, Weida? Welch unvergessene Legende hat der 1. FC Magdeburg geschrieben, als er als Viertligist zunächst Köln und dann die Bayern rauswarf? Oder die Hertha-Bubis, die mit ihrem Einzug ins Pokalendspiel etwas schafften, was den Profis der Hertha bis heute nicht gelungen ist? Saarbrücken, das 2019 als erster Viertligist ins Halbfinale einzog?
Wie viele Hoffnungen, Emotionen, grenzenlose Euphorie oder bitterste Enttäuschung lösen Pokalspiele Jahr für Jahr bei Vereinen wie Fans vor allem unterklassiger Klubs aus?
Der große Reiz des Wettbewerbs liegt darin, dass in einem Spiel alles möglich ist. Wo in der Liga mit 34 Spieltagen alles irgendwann nivelliert wird und der Stärkere sich in der Regel durchsetzt, kann der Underdog im Pokal in bis zu 120 Minuten plus Elfmeterschießen schon mal Berge versetzen. Oder Gesetze aushebeln, denn das ist sicher der berühmteste Slogan des Wettbewerbs: Der Pokal hat seine eigenen Gesetze.
Was es braucht zur Sensation, ist oft untersucht, aber niemals final geklärt worden. Kein Wunder, denn es gibt nicht „die Mischung“. Es ist eine Melange, die nicht nur viele Bestandteile hat. Sie können zudem in den unterschiedlichsten Varianten miteinander kombiniert werden. Da sind der matschige Dorfplatz und die nach einem Bundesligaskalp lechzenden Zuschauer unterklassiger Vereine. „Ich dachte, die Fans reißen das Stadion ein“, staunte Detlev „Delle“ Wolter, Regisseur von Nord-Oberligist Göttingen 05 1982 nach dem 2:1-Führungstreffer seiner Mannschaft gegen den Hamburger SV (Endstand 2:4) vor der ewigen Göttinger Rekordkulisse von 23.650 Zuschauern.
Da ist die Tücke des unbewusst überheblichen Gestus von Starspielern, die eben noch bei einer WM im weltweiten Rampenlicht standen und sich nun in einer rumpeligen Dorfkabine umziehen müssen und Spielern gegenüberstehen, die für ein paar Cents in der Landesliga kicken. Da sind Trainer, die ihren technisch und taktisch weit unterlegenen Spielern mit perfekten Ansprachen mehr Selbstbewusstsein eintrichtern, als sie tatsächlich Fähigkeiten haben. Da ist das Wetter wie im Januar 1980, als der FC Bayern auf Schneeboden in Bayreuth strauchelte oder jene 40 Grad im Schatten vom August 2012, als die TSG Hoffenheim beim 0:4 gegen Viertligist Berliner AK förmlich wegschmolz.
Und da ist dieser Moment, in dem der Underdog begreift, dass alles möglich ist. 1974 raunte der Eppinger Gerd Störzer einem Teamkollegen in der 50. Minute der wohl berühmtesten Pokalsensation aller Zeiten zu: „Du, ich glaub, die packen wir heut wirklich.“ Es ist die Unfähigkeit der Profis, den Hebel im Kopf umzulegen, wenn sie merken, dass halber Einsatz gegen den namenlosen Gegner nicht reicht. Als Oberligist FC Carl Zeiss Jena 1984 bei Bezirksligist BSG Chemie Velten rausflog, schrieb die „Neue Fußballwoche“: „Wie in grauer Fußball-Vorzeit ging es in der ‚schottischen Furche‘ nur munter geradeaus, einfallslos, ideenarm. So liederlich darf man in keinem Spiel mit den eigenen Möglichkeiten umgehen, im Pokal schon überhaupt nicht.“
Pokalsensationen leben von dieser unkalkulierbaren Melange, denn sie sind nicht vorhersagbar und treten zumeist dann auf, wenn niemand damit rechnet. Wie oft wurde im Vorfeld schon über das „Sensationspotenzial“ diskutiert, setzte sich der Favorit dann aber souverän durch, während am selben Tag auf einem ganz anderen Platz der unbeachtete David über sich hinauswuchs und den Goliath demütigte? Der Pokal hat eben seine eigenen Gesetze.
Wir haben die schönsten Sensationen aus DFB- wie FDGB-Pokal gesammelt und erinnern in mal kurzen Texten, mal langen Reportagen daran. Es sind rare Momente des Ruhms für Vereine, die sonst bestenfalls regional für Aufregung sorgen. Die Auswahl der Spiele ist konsequent subjektiv und wir sind uns bewusst, dass wir längst nicht alle Fälle erfasst haben. Verzeiht uns also, wenn ausgerechnet eure persönliche Pokalsensation fehlt. Zudem wollen wir nicht die immergleichen Geschichten schon wieder erzählen, denn dass Vestenbergsgreuth 1990 den FC Bayern rauswarf und Geislingen 1984 den HSV düpierte, ist Allgemeinwissen. In unseren Reportagen geht es daher vor allem um Sensationen, die noch nicht übererzählt sind. Nur bei Eppingen 1974 machen wir eine Ausnahme, denn das ist nun wirklich die „Mutter der modernen Pokalsensation“.
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Die Top-20 der Pokalsensationen (natürlich völlig subjektiv)
1. 26. Oktober 1974: VfB Eppingen – Hamburger SV 2:1
2. 4. August 1990: FV 09 Weinheim – FC Bayern München 1:0
3. 2. April 1958: BSG Traktor Teuchern – BSG Motor Zwickau 2:1
4. 1. September 1984: SC Geislingen – Hamburger SV 2:0
5. 14. August 1994: TSV Vestenbergsgreuth – FC Bayern München 1:0
6. 22. September 1984 BSG Chemie Velten – FC Carl Zeiss Jena 1:0
7. 26. August 2001: SSV Ulm 1846 – 1. FC Nürnberg 2:1
8. 3. März 2019 1. FC Saarbrücken – Fortuna Düsseldorf 7:6 n.E.
9. 23. September 1978 FC Bayern München – VfL Osnabrück 4:5
10. 16. August 1935 SpVgg Klafeld-Geisweid – Fortuna Düsseldorf 2:1
11. 31. Oktober 1987 BSG Fortschritt Weida – 1. FC Magdeburg 9:8 n.E.
12. 1. November 2000 1. FC Magdeburg – FC Bayern München 4:2
13. 31. Januar 1980 TuS Langerwehe – Hertha BSC 0:0 n.V., 2:1
14. 26. August 1995 SpVgg Beckum – 1. FC Köln 4:3 n.E.
15. 3. April 1959 SC Einheit Dresden - Vorwärts Leipzig
16. 26. August 2000: VfB Stuttgart Amateure – Eintracht Frankfurt 6:1
17. 9. September 2006 Stuttgarter Kickers – Hamburger SV 4:3 n.V.
18. 24. Oktober 1987 Viktoria Aschaffenburg – 1. FC Köln 1:0
19. 18. August 2012: Berliner AK – TSG Hoffenheim 4:0
20. 2. Februar 2021 Rot-Weiss Essen – Bayer Leverkusen 2:1 n.V.
„Ersatzbank“
28. Oktober 1997 Eintracht 05 Trier – Borussia Dortmund 2:1
4. August 1990 SpVgg Fürth – Borussia Dortmund 3:1
27. August 1995: SV Sandhausen – VfB Stuttgart 15:14 n.E.
25. April 1954 SC Turbine Erfurt – BSG Rotation Plauen 1:4
Wie kann ein Kreisligist Pokalsieger werden?
Jeder kann den Pokal gewinnen. Selbst ein Kreisligist. Zumindest theoretisch, denn während Profiklubs automatisch für die erste Hauptrunde auf Bundesebene qualifiziert sind, ist der Weg für Teams aus Kreis- und Bezirksliga ungleich länger. Will ein Kreisligist das Finale in Berlin erreichen, beginnt sein Weg schon zwei Jahre zuvor. Zunächst muss er im Kreispokal reüssieren. Oft ein schwieriges Unterfangen, denn natürlich treffen auch da Davids auf Goliaths, fliegt so manch favorisierter Kreisligist gegen Hobbykicker aus der Kreisklasse raus. Ist der Kreispokal gesichert, geht es auf Bezirksebene weiter. Dort stehen dem Kreisligisten deutlich talentiertere Gegner gegenüber, die häufiger als einmal pro Woche trainieren und ein gefundenes Fressen für Sensationsjäger sind. Als Bezirkspokalsieger geht es weiter im Landespokal, wo die Landes- und Oberligisten hinzustoßen. Spätestens jetzt treffen Hobbyfußballer auf ambitionierte Leistungssportler, die mit einem Auge auf das Halbprofilager schielen. Eine Sensation wird nun zunehmend unwahrscheinlicher und in der Regel ist für einen Kreisligisten spätestens jetzt Schluss – mehr als ein Jahr vor dem Pokalfinale in Berlin.
1990/91 wäre dem saarländischen Kreisligisten VfB Gisingen beinahe ein rarer Coup gelungen. Mit dem VfB Hüttigweiler (3:0) und dem FV Püttlingen (1:0) schalteten die Rot-Weißen zunächst zwei Landesligisten aus, besiegten anschließend Bezirksligist SC Wemmatia Wemmetweiler im Elfmeterschießen, triumphierten im Viertelfinale abermals im Elfmeterschießen gegen Hellas Marpingen und schalteten im Halbfinale sensationell die in der Oberliga spielenden Amateure des 1. FC Saarbrücken aus. Erst im Endspiel um den Saarlandpokal stoppte Verbandsligist SV Rot-Weiß Hasborn-Dautweiler die Kreisligaelf, brauchte dafür allerdings eine Verlängerung. Damit für die 1. Hauptrunde auf Bundesebene qualifiziert, reiste Hasborn-Dautweiler zunächst zur SpVgg Zschopau aus den gerade der Bundesrepublik angeschlossenen neuen Bundesländern und sorgte nach dem dortigen 3:2-Verlängerungssieg in der 2. Hauptrunde mit einem 5:4 nach Verlängerung gegen Zweitligist VfL Osnabrück für eine weitere Sensation. In der 3. Hauptrunde endete die Reise der Saarländer beim Oberligisten Freiburger FC, der sich 1:0 durchsetze und es im Achtelfinale mit dem VfB Stuttgart zu tun bekam. Jener gab sich beim 6:1 keine Blöße, streckte im Viertelfinale aber wiederum beim 0:1 nach Verlängerung in Leverkusen die Segel. Die Bayer-Elf erwischte es anschließend im Halbfinale im Elfmeterschießen bei der Mönchengladbacher Borussia, die wiederum im Endspiel zum Opfer einer legendären Pokalsensation wurde, als sich Zweitligist Hannover 96 im Elfmeterschießen durchsetzte.
Dieser Text stammt aus Ausgabe #31
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