Argentiniens Fußballzukunft unter Javier Milei

Ein wilder Löwe im Land des Weltmeisters 

Von Max Gippert

Ein rechter „Anarcho-Kapitalist“ ist in Argentinien zum neuen Präsidenten gewählt worden. Ein Blick auf die aktuellen Geschehnisse zeigt, wie Fußball und Machtinteressen zusammenhängen und welche Auswirkungen die Politik Mileis haben könnte.  

Bis vor drei Jahren war der 53-jährige Javier Milei den meisten Argentiniern nur von seinen Fernsehauftritten bekannt. Mit polemischen Aussagen gegen Politiker aller Couleur, gepaart mit cholerischen Wutausbrüchen, sorgte er in den TV-Programmen für gute Einschaltquoten. Seine Anhänger feiern den Rechtspopulisten passend zu seinem Auftreten und der wilden Haarmähne als Löwen. In Zeiten wirtschaftlicher Stagnation, einer Inflationsrate von 140 Prozent und weitverbreiteter Perspektivlosigkeit hat es Milei geschafft, den Systemverdruss auf seine Person zu kanalisieren. Dass seine Aussagen wenig überlegt sind und voller Widersprüchlichkeiten stecken, hat ihn nicht davon abhalten können, in der Stichwahl mit 56 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt zu werden. Seine Politik dürfte vor allem Auswirkungen auf die öffentliche Struktur der Fußballvereine und die Finanzierung des Frauenfußballs haben. 


Milei als Torwart und seine Verbindung zu den Boca Juniors 

Fußball und Politik sind in Argentinien eng miteinander verbunden. Wie die meisten Politiker hat auch Milei einen persönlichen Bezug zum runden Leder. Trotz seiner Eigenschaft, als eigensinnig und nicht teamfähig zu gelten, war Milei als Jugendlicher lange Zeit im Fußballverein aktiv. Er war Torwart bei den Chacaritas Juniors, wo er auf Leistungsniveau gespielt hat. Ähnlich wie in der Politik galt er auch auf dem grünen Rasen als unberechenbar, wie sich ein ehemaliger Mitspieler erinnert: „Er hat sich sein Trikot übergezogen und im Tor verrückte Sachen gemacht, er hat kopfüber einen Hechtsprung gemacht, Dinge, bei denen man dachte: Der Typ ist völlig verrückt." 


Nebenbei war er Fan der Boca Juniors, dem populärsten Verein des Landes, mit dem sich laut Umfragen 29 Prozent der Argentinier identifizieren. Aktuell hat dort Juan Román Riquelme das Sagen, die Vereinsikone ist Sportdirektor und Vizepräsident. Riquelme steht wiederum Sergio Massa nahe, dem Kandidaten des regierenden Mitte-links-Lagers, das Milei in der Stichwahl unterlag. Beide pflegen ein enges Verhältnis, in typisch argentinischer Manier treffen sie sich auch privat zum gemeinsamen Mate-Tee oder Rindfleischgrillen. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass Milei nicht gut auf seinen früheren Lieblingsverein zu sprechen ist.

Ohnehin ändert er regelmäßig seine Meinung. Im Fernsehinterview poltert er, der Klub sei „zu populistisch“ geworden. Zwischenzeitlich bezeichnet er sich gar als „Anti-Boca-Fan“, der bewusst dem Erzrivalen River Plate die Daumen gedrückt habe. Wie so oft weiß man nicht ganz, ob man seinen Worten so ganz Glauben schenken kann. Bis heute ist er bei Boca Vereinsmitglied und somit eingeladen, bei den am 2. Dezember anstehenden Präsidiumswahlen teilzunehmen. Herausforderer des Riquelme-Lagers ist dabei Mauricio Macri, ein alter Bekannter. Macri machte sich, bevor er von 2015 bis 2019 Staatspräsident Argentiniens war, als einer der mächtigsten Unternehmer des Landes einen Namen. Vor seiner Zeit als Staatspräsident leitete er als Vereinspräsident lange Zeit das Geschehen bei den Boca Juniors. Nicht zuletzt die Unterstützung aus seinem konservativen Wahlbündnisses gab nun den Ausschlag dafür, dass Milei bei den Wahlen am Ende deutlich vorne lag. Doch damit nicht genug: Auch im Parlament ist Milei zukünftig auf Macris Bündnis angewiesen, um Mehrheiten bilden zu können. Beide wissen um die Notwendigkeit ihrer Zusammenarbeit. Sollte Macri bei den nun anstehenden Präsidiumswahlen erfolgreich sein, könnte Milei über seinen neuen Verbündeten auch im Fußball Einfluss gewinnen.
 

Nach Maradonas Tod: Erste Wahlen ohne die „Hand Gottes“ 

Auch ein bereits verstorbenes Idol scheint den beiden Politikern ein Dorn im Auge zu sein: Diego Armando Maradona. Die Verehrung der „Hand Gottes“ hält in Argentinien auch nach seinem Tod an. Diego selber war nicht nur leidenschaftlicher Boca-Fan, sondern während Macris Vereinspräsidentschaft auch Spieler des Klubs gewesen. Schon damals kam es zu Auseinandersetzungen zwischen beiden, Maradona fühlte sich als „Sohn eines armen Vaters“ von Macri nicht auf Augenhöhe behandelt. Später äußerte er sich öffentlich gegen seine Politik. Als Reaktion auf Mileis Wahlsieg erklärt Macri nun süffisant die „Ära Maradona für beendet“. Damit sorgt er nicht nur bei Fußballfans für Empörung.

Wieso sich der Ex-Präsident gerade jetzt zu einer solchen Aussage hinreißen lässt, liegt auf der Hand: Maradona, mit Che-Guevara-Tattoo auf dem Oberarm, war nicht zuletzt auch eine politische Figur. Bekannt für seine Ablehnung konservativer Regierungen, identifizierte er sich mit der politischen Strömung des Peronismus, zu der auch die nun abgewählte Regierung zählt. Der Name geht auf Juan Perón zurück, dessen Politik Argentinien nachhaltig geprägt hat. Kennzeichen ist eine bürgernahe, auf sozialen Ausgleich ausgerichtete Politik. Auch nationale Identifikation und Symboliken spielen eine wichtige Rolle. Eine Figur wie Maradona kommt da gelegen. Seine Tochter Gianinna hatte in den sozialen Netzwerken vor der Stichwahl ein Bild mit der Botschaft „Die Leute, die Diego lieben, wählen nicht Milei“ hochgeladen. Wenn Mileis wichtigster Verbündeter daraufhin Maradonas Ära für beendet erklärt, ist die eigentliche Aussage: die Zeit fortschrittlicher Regierungen in Argentinien ist abgelaufen.
 

Von mitgliedergeführten Vereinen hin zu Fußball-AGs? 

In einem Land, dass unter einer chronischen Inflation und Wirtschaftskrise leidet, macht Milei mit einer radikalen Anti-Staats-Rhetorik auf sich aufmerksam. Der Staat sei das Grundübel aller Probleme. Jeder, der nicht denkt wie er, ist ein „Scheiß Linker“. In seinem Privatisierungshype will der Anti-System-Politiker auch vor dem Fußball nicht halt machen. Sein neuester Vorschlag lautet das englische Modell zu kooperieren. Dieses erlaubt den Vereinen sich in Aktiengesellschaften zu verwandeln, die für Investoren aus aller Welt zugänglich sind.

Mit seinem Vorstoß ist Milei kurz vor der Wahl auf einen Hagel von Ablehnung gestoßen. In Argentinien ist der Fußball stolzer Volkssport. Seit über 100 Jahren sind die Klubs per Statut mitgliedergeführt. Als gemeinnützige Vereine veranstalten sie auch über das Sportliche hinaus kulturelle Aktivitäten. Die Reaktion auf den Vorstoß Mileis ließ daher nicht lange zu warten übrig. In Abstimmung mit dem argentinischen Fußballverband AFA gaben binnen kurzer Zeit sämtliche Erstligavereine Erklärungen gegen Aktiengesellschaften im Fußball ab.

Einzige Ausnahme: Talleres de Córdoba. Passenderweise der einzige Verein, der Milei öffentlich zu seinem Wahlsieg gratuliert hat. In ihrer Vereinsstruktur stellt Talleres de Córdoba zusammen mit Defensa y Justica derzeit einen Sonderfall dar. Auch wenn beide offiziell als Vereine gelten, agieren sie in Teilen als Aktiengesellschaften. Daraus ergeben sich Wettbewerbsvorteile, die bei einigen Fans für Unmut sorgen. Beide bewegen sich in einem Graubereich, einer weiteren Privatisierung der Klubs stünde die Satzung der AFA im Weg. Eine Satzungsänderung wurde bislang nur von wenigen Fußballfunktionären unterstützt. Auch einige Fangruppierungen äußerten sich in klarer Ablehnung dazu. Angesichts der Tatsache, dass auch unter den Fußballfans viele für Milei gestimmt haben, bleibt abzuwarten, wie es in dieser Frage weitegeht.  


Ist die Finanzierung des Frauenfußballs in Gefahr? 

Auch im Frauenfußball gibt es vielerorts Besorgnis über die Auswirkungen der Präsidentschaft Mileis. In den letzten Jahren wurde eine stückweise Professionalisierung erreicht, gleichzeitig ist das öffentliche Interesse gestiegen. Nicht zuletzt dank politischer Entscheidungen spielt die erste Liga seit 2019 unter Halb-Profibedingungen. Ohne staatliche Unterstützung wäre die Finanzierung akut in Gefahr. Milei, der auch gerne durch frauenfeindliche Äußerungen auffällt, sorgt diesbezüglich für maximale Unsicherheit. Neben der staatlichen Ölgesellschaft YPF sollen auch TV Pública, der größte öffentliche Fernsehsender des Landes, sowie der Sportkanal DeporTV privatisiert werden. In provokativer Manier wählte er für seine Ankündigungen den 20. November, in Argentinien Feiertag der „nationalen Souveränität“.

Die Folgen der Privatisierungen für den Frauenfußball wären gravierend. Hauptsponsor der Liga ist der genannte staatliche Ölkonzern, nebenbei auch Hauptsponsor beim Aushängeschild Nationalmannschaft. Die Fernsehrechte liegen bei jenen TV-Kanälen, die Milei nun privatisieren möchte. Daniela Díaz, Trainerin von River Plate, schreibt in den sozialen Netzwerken: „Wird es das Ende des Frauenfußballs sein? Oder werden die neuen Eigentümer weiterhin zum Frauenfußball halten?“ Auf sie und ihre Kolleginnen warten unruhige Zeiten. 


Ungewissheit und Krise im Fußball 

AFA-Boss Claudio „Chiqui“ Tapia machte unterdessen zu keiner Zeit ein Geheimnis aus seiner Sympathie zu Sergio Massa und der amtierenden Regierung. Als die FIFA kürzlich eines der Eröffnungsspiele der WM 2030 an Argentinien vergab, nutze er die Gelegenheit, den anwesenden Massa als „zukünftigen Präsidenten der Argentinier" anzukündigen. Er warnte vor den möglichen Folgen eines Wahlsieges Mileis und lobte gleichzeitig Massa, den er als seinen „Compañero“ bezeichnete. Einmal mehr war klar: Fußball und Politik gehen in Argentinien Hand in Hand. Mehr noch als ideologische Gründe stehen wohl persönliche Interessen und Machtstreben im Vordergrund. 


Durch den Regierungswechsel werden sich die Vorzeichen bei Verband und Klubs nun grundlegend ändern. Dass sich politische Differenzen und persönliche Eitelkeiten so einfach überbrücken lassen, scheint unrealistisch. Unabhängig davon lässt der Zustand des Fußballverbandes so einiges zu wünschen übrig. Eine chaotische Wettkampforganisation, in der Ligamodus und Abstiegsregel Jahr für Jahr geändert werden, Korruption und Vetternwirtschaft stehen an der Tagesordnung. Zuletzt wurden bei laufendem Spielbetrieb die Regeln geändert und mal eben ein Abstiegsplatz gestrichen.

Dazu kommen die Rahmenbedingungen einer krisengebeutelte Wirtschaft. Die argentinische Liga wurde in den vergangenen Jahren im internationalen Vergleich immer weiter abgehängt. Talentierte Spieler wechseln mittlerweile noch früher ins Ausland. Zurück kommen sie, wenn überhaupt, erst kurz vor ihrem Karriereende. Vom Weltmeister-Kader aus dem vergangenen Jahr war nur der dritte Torwart Franco Armani in der heimischen Liga aktiv. Für positive Schlagzeilen muss die Albiceleste herhalten, die die Argentinier in den letzten Jahren mit tollen Leistungen erfreut hat. Neben der Copa América wurde auch der lang ersehnte Weltmeistertitel geholt. Danach wirkte es fast, als könne die Verbandsführung um Tapia mit einem Freifahrtschein agieren. Nach den Wahlen von letztem Sonntag ist der politische Rückhalt für die AFA-Führung fraglich. Im Fußball regiert die Ungewissheit, wie es weiter geht.

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Leitartikel: Fußballstadien sind die größten Konzertsäle der Welt. Das gilt nicht nur, wenn Bruce Springsteen oder Taylor Swift auftreten, sondern vor allem im Alltag. Zehntausende singen ihren Lieblingsklubs Hymnen, und bis in die unterste Dorfliga begleitet Musik die Spiele. Wie und warum kamen Fußball und Musik zusammen?

Überleben im Turbokapitalismus: Alemannia Aachen, FSV Zwickau, Bayern Hof
Kleiderkammer: 1. FC Köln
Neues aus dem Unterbau:  TSV 1860 Rosenheim, Berliner AK, VfR Mannheim, OSV Hannover, SV Meppen, Wattenscheid 09 und weitere
Jays Corner: SpVgg Böblingen
International: Partick Thistle (Glasgow), KÍ Klasksvik (Färöer)
Krisensitzung: Chemnitzer FC, FC Gießen, SC Fürstenfeldbruck, Southend United, FC Sochaux und CS Sedan.
Frauenfußball: And the Winner ist: Africa!
Bilderreise: Über 100 Jahre Fankultur bei der BSG Chemie Leipzig 

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