KURZ Geschichte

Spielerrätsel aus Spanien: Wer war „Didixein“

Von Dirk Segbers

Für einige mag das jetzt überraschend kommen, aber Google hat nicht auf alles eine Antwort. Transfermarkt.de kennt auch nicht jeden Spieler. Informationsüberfluss im Netz hin oder her – es gibt sie tatsächlich noch, die letzten Rätsel der Fußballgeschichte. Der Spanier Lartaun de Azumendi hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese zu lösen. Der Journalist ist Mitglied des Zentrums für Geschichtsforschung und Statistik des spanischen Fußballs (CIHEFE) und lebt in der Hauptstadt, obwohl er eigentlich aus Bilbao kommt. Und wer aus der Heimat von Athletic kommt, der ist auch Fan von Athletic, das ist bei Geburt serienmäßig so eingebaut. Die Geschichte des baskischen Kultklubs ist lang, bald 125 Jahre, und so bietet sich viel Raum für Lartauns geliebte Rätsel. Eins verfolgt ihn schon seit vielen Jahren. Es datiert auf eine Zeit, in der die Shorts der Spieler noch baggier waren als in den gefürchteten 2000ern. Wer zur Hölle war „Didixein“, wo kam er plötzlich her, und wieso war er genauso schnell wieder weg?

 

Über Didixein war bekannt, dass er nur ein einziges Pflichtspiel für Lartauns Verein bestritten hatte: das Viertelfinale der Copa del Rey 1909. Es gibt ein Foto, auf dem er kurz vor dem Spiel mit seinen Mannschaftskameraden abgelichtet wurde. Dabei trägt er das damalige Trikot, eine Hälfte blau, die andere weiß. Heutzutage läuft das Team aus Bilbao bekanntermaßen rot-weiß gestreift auf. Didixein ist der mit dem Ball in den Händen, unten in der Mitte.

Zum ersten Mal wird Didixein allerdings nicht bei Athletic, sondern in der spanischen Hauptstadt erwähnt. Als Spieler des Madrid CF nimmt er im Januar und Februar 1909 an der Regionalmeisterschaft teil. Der Sieger des Wettbewerbs erhielt das Startrecht in der Copa del Rey, die damals auch als spanische Meisterschaft diente. Didixein lief zwar in allen drei Gruppenspielen sowie in zwei Entscheidungsspielen als Mittelstürmer für Madrid CF auf und erzielte zwei Treffer, aber sein Team schaffte es nicht in den „Königspokal“. Unten die Elf von Madrid CF vor dem Spiel gegen Athletic Club Madrid. Didixein ist der „Lange“ oben in der Mitte.

Madrid CF war also raus, aber das hielt die Spieler nicht davon ab, sich einen Platz in den Kadern der Vereine, die sich für die Copa del Rey qualifiziert hatten, zu suchen. Die fußballerischen Uhren tickten damals nämlich noch etwas anders. Wo (offiziell) kein Geld, da auch keine Verträge. Es galt freie Teamwahl. Hinzu kam, dass der Athletic Club Bilbao zur besagten Copa del Rey 1909 nur mit drei Spielern anreiste. 1907 hatte es nämlich in dem Wettbewerb ein paar strittige Entscheidungen gegeben, Athletic hatte Protest eingelegt, der allerdings abgewiesen wurde. Die meisten der Kicker aus Bilbao hatten deshalb auch zwei Jahre später keine Lust auf die Reise und blieben lieber zuhause. Für das Viertelfinale gegen den Club Ciclista de San Sebastián fehlten also acht Mann. Kein Problem jedoch für die Basken, denn die hatten damals ein System, das ein österreichischer Brausehersteller Jahrzehnte später perfektionieren würde: Man bediente man sich einfach bei der eigenen Filiale. Das war im damaligen Falle der Athletic Club Madrid, aus dem später Atlético Madrid werden würde. Fünf Mann halfen aus. Komplettiert wurde die Elf durch ein Trio von Madrid CF, dem Vorläufer von Real Madrid, dem auch der geheimnisvolle Didixein angehörte. Die zusammengewürfelte Truppe ging mit 2:4 gegen San Sebastián baden und sorgte so für ein jähes Ende von Didixeins Abenteuer bei Athletic. In den Klubarchiven ist seither vermerkt, dass er an einem einzigen Nachmittag im Jahr 1909 bei einem Pflichtspiel das Trikot der (damals noch) Blau-Weißen trug. 

 

Der erste Such-Reflex lautet heutzutage: Google. Das ist auch bei einem Historiker nicht anders. „Da gab es aber überhaupt gar nichts, und wenn es sich um einen Nachnamen handelte, müsste doch irgendwo auf der Welt noch jemand so heißen. Also fing ich an, mit Namensvarianten zu spielen“, berichtet Lartaun. Mit der spanischen Aussprache anderer ausländischer Namen im Hinterkopf machte er aus dem „x“ ein „sh“. „Didishein“? Das klang wie ein jüdischer Nachname, aber müsste der nicht eher auf „m“ enden? „Didisheim“ ergab mehr als 100.000 Treffer in Google, viele davon im Zusammenhang mit Schweizer Uhrenmarken. Die Datenbank der Spanischen Nationalbibliothek spuckte zwei Treffer aus. Bingo, ein kurzer Spielbericht zum besagten Viertelfinale. Und eine winzige Anzeige, in der ein junger Mann namens J. Didisheim in Madrid Arbeit suchte.

„Ich setzte die Suche auf Genealogie-Websites fort. Dort deutete alles darauf hin, dass „J.“ für „Jean“ steht“, erklärt Lartaun. Jean Didisheim gehörte einer Schweizer Uhrmacher-Familie an. Vermutlich war der reiche Sprössling im Alter von 16 Jahren nach Madrid geschickt worden, um Arbeit zu suchen und so Spanisch zu lernen. Ein Jahr später hätte er in der ersten Mannschaft von Madrid CF gespielt. Das passte alles ganz wunderbar. „Aber dann fiel mein Kartenhaus zusammen“, sagt Lartaun de Azumendi. „Im Netz fand ich ein Foto von Jean in seinen Zwanzigern. Da war leider nicht wirklich eine Ähnlichkeit auszumachen.“ Jean Didisheim war nicht „Didixein“. 
 
Fernando Arrechea ist ebenfalls Mitglied des CIHEFE, musste sich Lartauns Gejammer über die Sackgasse bei seiner Suche anhören und hatte Monate später einen Geistesblitz. Er wandte sich an das Schweizer Nationalarchiv und erhielt einige Wochen später tatsächlich Antwort: Zwischen 1907 und 1909 hatten zwei Didisheims in Madrid gewohnt. Jean-Louis und André, beide mit identischer Meldeadresse. Angestachelt von dem unverhofften Erfolg tauchten Lartaun und Fernando ins Digitalarchiv der Schweizer Presse ab, das so einiges über die beiden Didisheims zutage förderte. Jean-Louis war jahrelang Chef eines Familienunternehmens, das unter der bekannten Marke „Marvin“ hochwertige Armbanduhren herstellte. Er starb mit nur 53 Jahren an einer Blutvergiftung infolge eines Skiunfalls. André Didisheim hingegen wurde 86 Jahre alt. André und Jean waren Cousins, und André leitete ebenfalls ein Unternehmen seiner Familie: Fast ein halbes Jahrhundert lang war er Geschäftsführer des Uhrenhauses Vulcain. 
 

Jetzt fehlte nur noch ein Beweis für das Intermezzo eines der beiden Didisheims im spanischen Fußball. „Über verschiedene Kanäle nahm ich Kontakt mit möglichen Nachkommen auf und erhielt entweder keine Antwort oder niemand schien einen Didisheim zu kennen, der in seiner Jugend Fußball gespielt hatte“, so Lartaun. Die Lösung brachte erneut die Lokalpresse. „Er unternahm eine Tour durch Spanien mit einer spanischen Fußballmannschaft“, heißt es in einem Nachruf auf André Didisheim aus dem Jahr 1975. Ein Fotovergleich lieferte endgültig Gewissheit.

Eray Cömert, Haris Seferovic, Philippe Senderos und eine Handvoll weiterer Schweizer, die es bisher nach Spanien verschlagen hat, kennen nun dank Lartaun de Azumendi ihren Urvater im Land. André Didisheim ist der einzige Eidgenosse, der für Athletic Club Bilbao und Real Madrid auflief, und das dürfte – angesichts der bekannten Klubphilosophie der Basken – auch so bleiben. Lartaun brachte die Geschichte viel Anerkennung und diverse Artikel in der Fachpresse ein. Für eins jedoch hat sich der ganze Aufwand besonders gelohnt. Athletic führt auf seiner Website ein Verzeichnis aller Spieler, die jemals für den Klub aufliefen. Seit Neuestem findet sich dort auch ein Schweizer namens André Didisheim. 

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