KURZ Geschichte

Die Wohnscheibe von Suhl

Von Hardy Grüne

BSG Motor Suhl:

„Die sollen Wintersport machen“

„Fußball in Suhl hat niemand gewollt“, sagte Oskar Taschler im August 2020 mit Blick auf die einzige Erstligasaison in der Geschichte des Suhler Fußballs. 1984/85 war Taschler Sektionsleiter der BSG Motor Suhl, die heute als Suhler SV 06 im Niemandsland der Ligen dümpelt. Vor 37 Jahren war das anders, galt die BSG Motor als Oberligaaufsteiger, den niemand kannte. Und der im Oberhaus ziemlich überfordert war. Ein Sieg, drei Unentschieden, 92 Gegentore – niemand war zu DDR-Oberligazeiten schlechter als die BSG Motor Suhl.

 

Am Aufstieg der Südthüringer war so ziemlich alles Zufall gewesen. Seit 1973/74 spielte die BSG Motor Suhl in der zweithöchsten Spielklasse der DDR. Die war damals aufgebläht auf fünf Staffeln und damit alles andere als tauglich, um als wettbewerbsfähiger Unterbau zur Oberliga mit ihren 14 Elitemannschaften zu dienen. Im Ligaalltag ging es für Suhl gegen Teams wie Werkzeugkombinat Schmalkalden, Motor Zeulenroda oder Chemie Schwarza. Eine ganze Fußballwelt entfernt von Kadermannschaften vom Kaliber FC Carl Zeiss Jena und Dynamo Dresden, von deren Gastspiel man im beschaulichen Stadion der Freundschaft allenfalls heimlich träumte.


Anfang der 1980er Jahre war der Ehrgeiz in Suhl dennoch erwacht, holte man talentierte NVA-Soldaten sowie bei den Clubs aus Halle, Jena und Erfurt ausgebildete Talente in die nicht gerade für hohe Lebensqualität stehende Waffenstadt am Rennsteig. Dreimal war das Team in der Aufstiegsrunde zur Oberliga gescheitert, als es 1984 den nächsten Anlauf gab. Selbst wenn die Suhler Fans optimistisch „Auch die Fans von Liverpool haben Angst vor Motor Suhl“ auf ihre Transparente pinselten, glaubte angesichts der Konkurrenz von Stahl Brandenburg und Sachsenring Zwickau kaum jemand, dass es diesmal klappen könnte.

Doch dann kam der 16. Juni 1984. Am vorletzten Spieltag lag Suhl bei der ASG Vorwärts Dessau kurz vor Schluss mit 1:2 in Rückstand, als sich Verteidiger Andreas Böhm das Leder schnappte, über das halbe Feld marschierte und durch ein Foul gestoppt wurde. Routinier Erhard Mosert legte sich den Ball zurecht, nahm Blickkontakt zu Uwe Büschel auf, der kurz vor Beginn der Aufstiegsrunde von einem einjährigen Gastspiel bei Stahl Riesa zu Motor Suhl zurückgekehrt war. Mosert hob den Ball in den Strafraum, wo Büchel schon heranflog und den Underdog mit dem 2:2 in die Oberliga köpfte. Während Klaus Schröder den Ball fix aus dem Netz klaubte und ihn in den Dessauer Himmel jagte, um Zeit zu schinden, raste Büchel auf die Fankurve zu. Dass es die des Gegners war, dessen Aufstiegsträume er mit seinem Treffer gerade zerstört hatte, war ihm nicht klar. Büchel: „Die Fans haben alles geworfen, was sie hatten. Ich habe nur die Arme hochgerissen und gerufen ‚Wir haben es geschafft!‘ Das war ein wahnsinniger Rausch. Was da los war mit uns! Wir konnten es alle nicht fassen. Aufzusteigen in die erste Liga, war damals sensationell für Suhl.“ Eine Woche später feierten 4.200 Zuschauer ihre Mannschaft beim abschließenden 2:2 gegen Mitaufsteiger Stahl Brandenburg. Erstmals seit dem Abstieg von Motor Steinach 19 Jahre zuvor war der Bezirk Suhl wieder im Fußball-Oberhaus der DDR vertreten!

Die Elf der Namenlosen

„Für die Elf der ‚Namenlosen‘ ist es bereits ein riesiger Erfolg, sich mit den besten Vertretungen des Landes messen zu dürfen“, heißt es im gemeinsamen Sonderheft zur Oberligasaison 1984/85 von „Sportecho“ und „Fuwo“. Die BSG Motor Suhl war der Aufsteiger, der vom Himmel fiel. Und ganz eilig einen Fallschirm brauchte, um nicht abzustürzen. Der ganze Bezirk half dabei. Sektionsleiter Oskar Täschler, hauptberuflich Ingenieur bei Trägerbetrieb VEB Simson Suhl, wurde freigestellt, um sich ausschließlich um den neuen Oberligisten zu kümmern. Gemeinsam mit Ex-Trainer Helmut Beulich graste er Südthüringen nach Verstärkungen ab.

Als Betriebssportgemeinschaft stand Suhl lediglich der eigene Bezirk für Zugänge zur Verfügung – und der war einseitig ausgerichtet auf Wintersport mit Zentrum Oberhof sowie Schützen in der Waffenstadt Suhl. „In Suhl hatten wir nur drei, vier Spieler, die Oberliga hätten spielen können“, erinnerte sich Täschler 36 Jahre später. Die Ernte des Duos war entsprechend dünn. Aus Ilmenau kam Verteidiger Lutz Küpper, von den Reserven der Oberligisten Jena bzw. Leipzig holte man Jörg Wagner und Andreas Döll. „Unser Aufstieg war damals nicht eingeplant. Weder vom Verein, noch vom Verband“, wusste Mittelfeldspieler Dieter Kurth, damals 21, und nach der Wende Trainer in Bamberg und Großbardorf.

Eckpfeiler der Motor-Elf war Erhard Mosert, Vorlagengeber des 2:2-Aufstiegstores in Dessau. Er war als „Beckenbauer der DDR“ bezeichnet worden, als er sich 1971 bei einem Hotelbrand in Eindhoven, wo die Mannschaft von Chemie Halle vor einem Europapokalspiel übernachtete, mit einem Sprung aus dem Fenster rettete. Dabei zog er sich einen fünffachen Beinbruch zu, der seine Nationalmannschafts- und Oberligakarriere beendete. Seit 1973 kickte Mosert in Suhl.

Neben oberligatauglichen Spielern mangelte es den Thüringern an der nötigen Infrastruktur, denn das Stadion der Freundschaft war ein besserer Zweitligaplatz. „Sämtliche Betriebe, die noch irgendwelche freie Spitzen hatten, wurden aktiviert“, heißt es über die emsigen Aktivitäten während der Sommerpause. Über Nacht entstanden eine Holztribüne, ein Sprecherturm, eine Anzeigetafel sowie ein Verwaltungsgebäude – alles finanziert von Simson. Das in der Oberliga regelmäßig zu den Spielen anrückende Fernsehen erhielt einen ungewöhnlichen Platz für die Berichterstattung: Parallel zur Außenlinie stand einer der zahlreichen Plattenbauwohnblöcke, denn Suhl, damals 68.000 Einwohner, heute nur noch 38.000, galt als „Hauptstadt der Plattenbauten“. Von den Motor-Fans wurde der Block „Wohnscheibe“ genannt, weil seine Einwohner einen perfekten Blick aus ihren Küchen- bzw. Wohnzimmerfenstern auf das Stadion der Freundschaft hatten. „Dort wurden die Kameras für die Spiele aufgestellt, weil im Stadion kein Platz dafür war“, erinnert sich Dieter Kurth. 1.600 Menschen lebten in der „Wohnscheibe“.

Trainingslager in Ungarn

Zur Vorbereitung auf das Oberliga-Abenteuer ging es ins Trainingslager nach Ungarn. „Eine Hotelanlage für Pferdefreunde, mit großen Koppeln und auch sonst reichlich Annehmlichkeiten, auch Gästen aus dem nicht-sozialistischen Ausland“, so Abwehrchef Wolfgang Reuter. Kontakt zu diesen Gästen war den Motor-Spielern ausdrücklich untersagt. Als Reuter am Hotelpool mit einer attraktiven Schweizerin ins Gespräch kam, wurde er vergattert: „Ich musste rein. Man hat mir ganz klar gesagt, dass das ein Verstoß ist“. Rausschmeißen konnten sie den Flirt-Sünder jedoch nicht, und im Testspiel gegen das Team von Honvéd Budapest um den späteren Bundesligaprofi Lajos Détári verkauften sich die Südthüringer auch durchaus hoffnungsvoll.

Zum ersten Saisonspiel am 18. August 1984 gegen den FC Vorwärts Frankfurt kamen offiziell 9.000, tatsächlich aber je nach Überlieferung zwischen 13.000 und 18.000 Fans. „Wir haben extra Ordner von Oberschönau geholt, meinem Heimatort. Drei Mark bekamen die Ordner pro Spiel“, erinnert sich Sektionsleiter Oskar Taschler. Die Suhler Fußballwelt war plötzlich eine völlig andere. Taschler: „Vor jeder Partie musste der Verein bei der Volkspolizei und Staatssicherheit vorstellig werden, um das kommende Wochenende durchzusprechen. Ein Rechenschaftsbericht nach Spielende war Pflicht“. Trainer Ernst Kurth fand sich jedes Wochenende an der Seite seiner namhaften Kollegen aus Jena und Erfurt in einer Talkrunde zum Fußballwochenende wieder. Großer Fußball im kleinen Suhl! Doch die Wintersportstadt Suhl und Fußball-Oberliga - das sah man bei der Sportführung in Berlin gar nicht gerne. Einmal im Monat musste Sektionsleiter Taschler in die Hauptstadt zum Treffen aller Oberliga-Clubchefs: „Ich habe mich manchmal gefragt, warum ich überhaupt nach Berlin fahre. Sie haben uns merken lassen, dass wir unerwünscht waren.“

Sportliche Verstärkungen gab es zunächst nicht. „Die sollen Wintersport machen“, hieß es lapidar. Erst nach drei Spielen – und Niederlagen – kam mit Henry Lesser ein Mann, der beim 0:2 in Aue am vierten Oberligaspieltag debütierte. Der aus Brotterode stammende Angriffsspieler war eigentlich Skispringer, hatte sich aber bei der ASG Vorwärts Dessau zum Fußballer ausbilden lassen und anschließend in der Armeeelf-Zentrale in Frankfurt/Oder mittrainiert. „Das waren zwei völlig verschiedene Welten“, erinnert sich Lesser an die Unterschiede zwischen dem Vorwärts-Leistungszentrum an der polnischen Grenze und der Provinzbühne Suhl (siehe auch unser Interview mit Henry Lesser in Zeitspiel-Ausgabe 17 „70 Jahre DDR-Oberliga). Dort gab es nicht mal einen wintertauglichen Trainingsplatz. Manchmal wurde auf dem knochenharten Parkplatz am Stadion trainiert, manchmal wurde das Team vom Simson-Fabrikbus abgeholt und auf der Suche nach geeigneten Rasenflächen durch den Bezirk gekarrt. „Wir haben einfach Fußball gespielt, rumgebolzt und uns im tiefen Schnee die Kraft geholt“, sagte Linksverteidiger Andreas Böhm: „Irgendwie eine verrückte Zeit. Wahnsinn!“


Böhm lebte damals gemeinsam mit Aufstiegsheld Uwe Büchel in einer Fußball-WG in der Kornbergstraße in Suhl-Nord, einer der vielen Plattenbausiedlungen Suhls. „Das sind private Sachen. Ich rede da nicht so gern drüber“, deutet der Schütze des goldenen Tores an, dass dort nicht immer professionell gelebt wurde. Motor Suhl war eben ein Kollektiv ohne Stars. Im Ligaalltag bewahrheitete sich jedoch, dass der Zufallsaufsteiger keine Oberligatauglichkeit besaß. Dieter Kurth: „Wir hatten damals einfach nicht die Qualität wie viele andere Mannschaften. So ist eben der Sport.“ Zudem gab es internen Ärger, als Abwehrchef Reuter mit Trainer Kurth aneinandergeriet und die BSG nach 18 Spielen verließ. „Die älteren Spieler, die eine eigene Meinung hatten, mochte der Trainer nicht so. Da gab es immer Differenzen“, kommentierte Reuter, der unter den Rahmenbedingungen in der Mittelstadt litt. „Wenn du alleine dort wohnst, ist Suhl furchtbar. Die Stadt war einfach zu klein. Am nächsten Tag wussten alle sofort, wer wo war und was gemacht hatte.“ Auch Uwe Büchel, der Mann, der mit dem 2:2 in Dessau das Oberligator geöffnet hatte, musste vorzeitig gehen. Grund war ein Friseurbesuch. „Mitte der 80er Jahre tragen die Männer die Haare an den Seiten gerne kurz und oben drauf wellig“, heißt es im Zeitungsportal „Südthüringen.de“: „Das ist bei Uwe Büchel nicht anders, auch wenn man so ‚wie ein Pudel“ ausgesehen hat, wie er heute weiß. Aber das sei eben die ‚Pop-Zeit‘ gewesen“.

Nach der 2:3-Niederlage gegen Büchels Ex-Klub Stahl Riesa wollte der Torjäger noch auffälliger werden und ließ sich die dunkelbraunen Haare blond färben. „Südthüringen.de“: „Für einen Leistungssportler in der Deutschen Demokratischen Republik ist das ein Unding.“ Der Spieler wurde erneut zum Friseur geschickt, doch die Rückfärbeaktion ging fürchterlich schief. Statt im gewohnten Dunkelbraun leuchtete Büchels Haarschopf nun Rot. „Der Büchel habe sich die Haare schwarz-rot-gold gefärbt!, erzählt man sich in Suhl“, schreibt „Südthüringen.de“ 35 Jahre später. Das war das Ende seiner Oberligakarriere. Trainer Kurth warf ihn nach fünf Spielen aus dem Kader, woraufhin Büchel im Tausch mit Ralf Beck zu Zweitligist Aktivist Kali Werra Tiefenort wechselte. Büchel: „Wir waren Tabellenletzter, hatten kein einziges Spiel gewonnen. Die Stimmung in der Mannschaft war auch nicht mehr gut. Da kommt eins zum anderen. Und dann hat man halt gesagt: Na, da muss man mal einen nehmen, der hier raus muss. Und das war halt ich. Wenn Suhl bis dahin in fünf Spielen nicht vier Niederlagen kassiert hätte, hätte man vielleicht darüber hinweggeguckt. So hat die Fliege an der Wand gestört.“

Erster Sieg nach acht Monaten

Sportlich ging das Oberligaabenteuer fast schon erwartungsgemäß schief. Zum Fehlstart in der Liga kam eine 1:2-Pokalpleite nach Verlängerung bei Zweitligist TSG Ruhla. Am dritten Spieltag feierten 9.000 im Stadion der Freundschaft zwar ein 0:0 im Kellerduell gegen Chemie Leipzig, doch erst im fünften Spiel durfte Suhl endlich richtig jubeln, als Routinier Mosert gegen Stahl Riesa auf 1:2 verkürzte und den historischen ersten Suhler Oberligatreffer erzielte. Zum Sieg reichte es nicht, denn nach 90 Minuten stand eine 2:3-Niederlage, mit der die BSG Motor auf den letzten Platz zurückfiel, den sie bis zum Saisonende nicht mehr los wurde. Kraft hatten wir genug“, glaubt Linksverteidiger Böhm rückblickend, „und Laufen konnten wir auch. Aber fußballerisch waren wir fast jedem Gegner unterlegen“.

Ein einziger Saisonsieg gelang der Mannschaft. „Suhl kann doch gewinnen!“, schlagzeilte die „Neue Fuwo“ nach dem 3:1 gegen die BSG Wismut Aue am 9. März 1985, acht Monate und 16 Spiele nach dem Saisonstart: „Die 4.500 Getreuen, ‚die endlich einmal für ihr ständiges Ausharren und Anfeuern belohnt wurden‘, so Erhard Mosert, konnten es kaum fassen. Erstmals ging der Neuling im 17. Oberligaspiel in Führung! Und diese löste alle noch vorhandenen Bremsen.“ Eine Woche später setzte es ein 1:3 im Kellerduell bei Stahl Riesa, saßen die Suhler Bremsen schon wieder fest, erstarben die letzten Hoffnungen auf den Klassenerhalt.

Dieser Text stammt aus Ausgabe #24 "Wir spielten nur einen Sommer: Eintagsfliegen in Deutschland".

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