ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #38

 1945

Stunde Null im Fußball

(Von Hardy Grüne)


Geht man die Gründungsjahre der Profiklubs in Deutschland durch, findet sich nur einer, der im Jahr 1945 entstand: der VfL Wolfsburg. Die meisten heutigen Profiklubs hatten bei Kriegsende schon mehr oder weniger 50 Jahre auf dem Buckel. Und doch begann 1945 für alle alles neu. Die Kapitulation zog einen vorläufigen Schlussstrich unter die deutsche Fußballgeschichte, die ab 1938 zu einer großdeutschen geworden war und deren Protagonisten sich bereitwillig dem nationalsozialistischen Führerprinzip und Machthunger unterordneten. Zwischen 1933 und 1945 hatten Fußballvereine keine Präsidenten oder Vorsitzende, sondern „Vereinsführer“, wurden Juden ausgeschlossen, Systemkritiker denunziert und der Fußball als Propagandamittel missbraucht.


Der Bruch von 1945 hatte unterschiedliche Konsequenzen. Dort, wo einst Mannschaften wie der VfB Königsberg, Hindenburg Allenstein, die SpVgg Breslau 02 oder Vorwärts-Rasensport Gleiwitz um Punkte spielten und ihre Fans begeisterten, liefen nun sowjetische bzw. polnische Mannschaften auf, endeten fünf Jahrzehnte deutsche Fußballgeschichte für immer. Im Osten der 1945 in vier Zonen geteilten heutigen Bundesrepublik Deutschland wiederum verschwanden ehemalige Deutsche Meister wie der VfB Leipzig und der Dresdner SC hinter Betriebssportgemeinschaften, um erst 1990 wieder aufzutauchen. 45 Jahre nach Kriegsende und drei Generationen später fremdelten die neuen Generationen allerdings mit den alten Namen und blieben lieber bei jenen, die in der Zwischenzeit die Herzen erobert hatten. Während aus dem neugebildeten VfB Leipzig also wieder der 1. FC Lokomotive wurde, verteidigte in Dresden die SG Dynamo ihre lokale Führungsrolle gegenüber dem neuentstandenen DSC. In der ehemaligen DDR ist der Bruch von 1945 bis heute fast überall zu sehen.


1945 markiert zudem den Beginn des heutigen Ligasystems. Bis dahin gab es in Deutschland reichsweit bis zu 700 Mannschaften, die sich „Erstligisten“ nennen durften, spielte man maximal in einem Radius von 200 Kilometern um Punkte und schickte nur seine Regionalmeister in die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft. Damit war Deutschland meilenweit entfernt von einer landesweiten Nationalliga, wie es sie in Frankreich, England, Spanien usw. schon lange gab. Ausgerechnet der Neustart 1945 und die damit einhergehenden Turbulenzen schufen jenen Freiraum, aus dem die Gründung der Oberliga Süd, die im November 1945 als erste großräumige Fußball-Liga in Deutschland ihren Spielbetrieb aufnahm, möglich war.


16 Spitzenmannschaften in einer einzigen Eliteliga, das war fünf Monate nach Kriegsende eine unfassbare Leistung, und das war vor allem ein Vorbild. Schon 1950 gab es in Deutschland sechs erstklassige Oberligen, von denen fünf 1963 die Bundesliga bildeten. 1991 kam auch die sechste, die DDR-Oberliga, hinzu. 1945 war insofern auch die Geburt des modernen Leistungs- und Publikumsfußballs, die Grundlage für unser heutiges Ligasystem sowie die Basis für die ungeheure Popularität des Fußballs, die bereits Ende der 1940er Jahre einen gewaltigen Höhepunkt erfuhr.


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Luxemburg. Geschichte einer Fußball-Liebe

8. Mai 1945. Die Stunde Null

7. Mai 1945. In Europa endet der Zweite Weltkrieg mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, im französischen Reims. Weil Stalin die Vereinbarung nicht akzeptiert, wird sie am frühen Morgen des 9.Mai in Berlin-Karlshorst wiederholt. Ab 23.01 Uhr des 8. Mai 1945 schweigen vereinbarungsgemäß die Waffen. Der Krieg ist vorbei.

 

Mit der doppelten Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde ist das „tausendjährige Reich“ nach zwölf Jahren Geschichte. Europa liegt zerstört darnieder. Im Pazifik geht der Krieg weiter, ehe die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki auch dort für sein Ende sorgen.

Es ist die „Stunde Null“. Ein Begriff, der so schwammig wie umstritten ist. Zunächst gibt es keine einheitliche „Stunde Null“. Das Kriegsende kommt sukzessive mit dem Vormarsch der Alliierten zu den Menschen in Deutschland und den von Deutschland besetzten Ländern. Viele Landstriche sind am 8. Mai bereits befreit und befriedet. Auch zeitlich ist er schwierig. Beginnt die „Stunde Null“ mit Hitlers Selbstmord am 30. April? Oder ist es der Moment, an dem die Waffen nach fast sechs Jahren schweigen und die tödliche Gegenwart endlich zur Vergangenheit werden kann? Tatsächlich wird der Begriff „Stunde Null“ ausschließlich rückblickend genutzt und ist zu einer Metapher geworden, die ein kollektives Gefühl der Zeit beschreibt: den Neustart.

 

FUSSBALL TEIL DER PROPAGANDAMASCHINE

Auch der Fußball kennt keine echte „Stunde Null“. Irgendwann zwischen September 1944 und Januar 1945 wird in den meisten Gauen des zusammenbrechenden Großdeutschen Reiches der Ligaspielbetrieb eingestellt. Nur vereinzelt wird weitergekickt. Am 29. April, einen Tag vor Hitlers Selbstmord, stehen sich in Hamburg der HSV und Altona 93 zum vermutlich letzten Spiel unter dem Hakenkreuz gegenüber. Deutschland bricht zusammen und die Menschen spielen Fußball. Was absurd erscheint, hat System. Der britische Historiker Ian Kershaw sagte der „Frankfurter Rundschau“ 2015: „Die Tatsache, dass Deutschland eine gut ausgebildete Bürokratie und eine lange Tradition des Staatsdienstes hatte, ließ das System weiter funktionieren – Löhne und Gehälter zum Beispiel wurden noch im März und April 1945 ausgezahlt -, wenn auch mit drastisch verringerter Effizienz. Das Regime versuchte alles, um die Fata Morgana der Normalität aufrechtzuerhalten, sogar, als sich der totale Zusammenbruch näherte“.


Fußball war ein elementares Mittel, um das kriegsmüde und desillusionierte Volk bei Laune zu halten. Eine bemerkenswerte Karriere für ein Freizeitvergnügen, das überall in Europa während des Ersten Weltkriegs seinen Durchbruch zum Massensport geschafft hatte. Auch in Deutschland. Viele junge Deutsche lernten den Fußball zwischen 1914 und 1918 an den Fronten durch höhere Dienstgrade und Offiziere oder in britischer Kriegsgefangenschaft kennen und sorgten nach dem Krieg für einen nie erlebten Boom an Aktiven, Vereinen und Zuschauern im Deutschen Reich. Der Erste Weltkrieg legte zwar nicht die Basis zum Volkssport Fußball, er war aber der Katalysator, damit aus dem bis 1914 überwiegend bürgerlichen Vergnügen binnen kurzem ein klassenübergreifender Massensport werden konnte. Nachdem Hitler 1933 die Macht übertragen bekommen hatte, gehörte Fußball prompt zu den nationalsozialistischen Propagandamitteln im Werben um die Herzen der Menschen. Länderspiele, Endspiele um die Deutsche Meisterschaft, renommierte Fußballer – all das wurde politisch instrumentalisiert.

 

FUSSBALL ALS LEBENSRETTER

27 Jahre später ist Fußball im Sommer 1945 beim Übergang zwischen Zweitem Weltkrieg und Neubeginn, also der „Stunde Null“, erneut zentraler Baustein für das gesellschaftliche Seelenheil. Und manchmal sogar Lebensretter. Fritz Walter ist im Juni 1945 nach kaum überstandener Malariaerkrankung an der rumänisch-ukrainischen Grenze angekommen. Eigentlich soll er wie tausend andere deutsche Wehrmachtssoldaten nach Sibirien weitertransportiert werden. Doch das Bahn-Spursystem zwischen Rumänien und der Sowjetunion ist unterschiedlich, und so muss Walter auf den Weitertransport warten. „Hoffnungslos niedergeschlagen hocken wir in einer Ecke des Kasernenhofes“, schreibt der spätere Weltmeisterkapitän: „Mit einem Mal durchzuckt es mich wie ein elektrischer Schlag“. Vor seinen Augen spielen slowakische und ungarische Wachmänner Fußball. Walter: „Es juckt und zwickt mich infernalisch, in das Ballgeplänkel einzusteigen“. Das Schicksal, so die Legende, lässt ihm den Ball vor die Füße rollen. Ein paar Blickkontakte, dann darf der Kaiserslauterer aufs Feld. Und spielt buchstäblich um sein Leben. „Wer bist du? Wo kommst du her?“, fragen die Wachmänner, als Walter alle schwindelig spielt. „Aus Kaiserslautern. Ich habe auch in der deutschen Nationalmannschaft gespielt“. Als er seinen Namen sagt, horchen die ungarischen Wachmänner auf. Im Mai 1942 hat Fritz Walter beim 5:3 in Budapest brilliert. Einige von ihnen waren damals im Stadion. „Du nicht nach Russland. Du bleiben hier“, sagen sie. Walter bekommt Essen, eine Pritsche im Wachhaus. Tags darauf wird er Lagerkommandant Major Schukow vorgestellt. Der streicht ihn von der Transportliste nach Sibirien. Stattdessen kommt Fritz Walter zum Wachpersonal und wenig später in Freiheit. Es ist seine „Stunde Null“.

 

HEILE WELT IN EINER KAPUTTEN WELT

Wie für Walter dreht sich in den ersten Nachkriegswochen für zehntausende Menschen im kriegszerstörten und von Flüchtlingstrecks geprägten Europa vieles um den Fußball. Er ist Seelenanker in einem Alltag, der von Überleben geprägt ist. Eine kleine heile Welt in einer großen kaputten Welt. Wehrmachtssoldaten kicken in französischen, britischen, amerikanischen und sowjetischen Gefangenenlagern. Junioren und Alte Herren beleben in den zerstörten Städten die Vereine. Heimkehrende Soldaten feiern ihre Rückkehr mit einem Spiel gegen Heimkehrer aus dem Nachbardorf. Aus den KZ befreite Juden, die auf die Ausreise nach Palästina warten, richten Lagerligen ein und tragen Meisterschaften aus. Aus Schlesien, dem Sudetenland und Ostpreußen vertriebene Deutsche knüpfen in der neuen Heimat auf dem Fußballplatz erste Kontakte. Britische Soldaten, die nur untereinander Fußball spielen dürfen, durchbrechen das Fraternisierungsverbot und spielen gegen Deutsche. Der Fußball ist mittendrin im Neustart der „Stunde Null“.

 

DIE JAHRE DER UNSCHULD BIS ZUR TEILUNG

Die weitere Entwicklung verläuft rasant. Noch 1945 wird in Süddeutschland mit der Oberliga Süd eine Spielklasse ins Leben gerufen, die die Funktionäre in vier Jahrzehnten Frieden nicht hinbekommen haben. Es fahren kaum Züge, die wenigen Lastwagen müssen mit Holzvergasern angetrieben werden, alle hungern und frieren, doch in Stuttgart, München oder Frankfurt jubeln Zehntausende ihren Fußballmannschaften zu. Die Zeit bis zum Beginn des „Wirtschaftswunders“ Anfang der 1950er Jahre wird in der angehenden Bundesrepublik zur Blütezeit des Fußballs. Nie wieder ist die Zahl der Vereine, Mannschaften und Fußballer im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl größer als in den ersten Jahren nach Kriegsende. Es ist allerdings, auch das gehört zur Wahrheit des Jahres 1945, eine Männerdomäne. Frauen werden nur als Mütter, Gattinnen, Verlobte oder Kneipen-Servierkraft geduldet.


Als 1947 auch im Westen und Norden Oberligen gebildet werden (der Südwesten folgt 1950), neigt sich die goldene Ära ihrem Höhepunkt zu. Zugleich steht Deutschland vor der Teilung - und wieder steckt der Fußball mitten drin. In der Bundesrepublik öffnet man das Tor zum bezahlten Fußball, lässt die Vergangenheit hinter sich und richtet sein Leben an Aufbruch, Konsum, Rock’n’Roll und Automobil aus. In der DDR, wo 1949 eine Oberliga startet, wird Fußball politisch, bricht man mit bürgerlichen Traditionen und installiert einen Sport auf Gewerkschafts- bzw. Betriebsbasis. Der 8. Mai 1945, die „Stunde Null“, wird fortan unterschiedlich bewertet. Im Westen ist er geprägt von Niederlage, Katastrophe und Hoffnungslosigkeit; wird er verdrängt. Im Osten ist er der „Tag der Befreiung“ und wird gefeiert.

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Zusäzliche Texte zum Leitartikel "1945. Stunde Null im Fußball" (nicht im Heft, nur Online)

1945: Fußball in Osteuropa

Im Einflussbereich der Sowjetunion ging man sowohl Sonder- als auch Einheitswege. Überall wurden die bürgerlichen Vereins- und Verbandsstrukturen nach 1945 zerstört und durch ein betriebliches System ersetzt, das sich am sowjetischen orientierte    

1945: Neue Fußballhochburg Südamerika

In Südamerika wurde während des Zweiten Weltkriegs weitergespielt. Argentinien begann seinen großen Aufstieg, in Kolumbien formierte sich eine unabhängige Profiliga

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