ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #36
Fandíme českému fotbalu!
(Wir lieben und feiern den tschechischen Fußball!)
Von Sebastian Thiel
Tschechischer Fußball, du unbekanntes Wesen. Lange Zeit brachte man mit unserem Nachbarland nur verschwommene Bilder von Europapokalnächten deutscher Vereine bei Sparta oder Slavia Prag, Sigma Olomouc oder Baník Ostrava in Verbindung. Und an tschechischen Spielern war allenfalls Antonín Panenka in Deutschland ein Begriff, der mit seinem Chip-Elfmeter im Finale der Europameisterschaft 1976 gegen die DFB-Elf Fußballgeschichte schrieb. Während die ganze Welt seither bei solchen Elfmetern von einem „Panenka“ spricht, wird der Kunstschuss übrigens im Land seines Schöpfers Vršovicer Stupser („Vršovický dloubák“) genannt, nach Panenkas fußballerischer Heimat im Prager Bezirk Vršovice. Dort hat sein Stammverein Bohemians Prag seinen Sitz, bei dem Panenka seit vielen Jahren Präsident ist.
Und auch wenn bereits in den 1970er Jahren die ersten tschechischen Spieler den Sprung nach Deutschland wagten, dauerte es bis Ende der 1980er Jahre, ehe Akteure wie František Straka oder Stanislav Levý dem tschechischen Fußball in Deutschland ein Gesicht geben konnten. Sie bereiteten damit den Boden für Legenden wie Miroslav Kadlec, Pavel Hapal, Jiří Němec, Radoslav Latal, Pavel Kuka, Patrik Berger, Tomáš Rosický oder Jan Koller. Spätestens als dann 1996 zwanzig Jahre nach der „Nacht von Belgrad“ erneut ein EM-Finale zwischen Deutschland und Tschechien (das die fußballerische Tradition der Tschechoslowakei fortführte) stattfand, merkte auch der letzte Fan in Deutschland, dass „nebenan“ ganz ordentlich gekickt wird.
Paradies für Fußballnostalgiker
Dass das Interesse der Tschechen am Fußball im eigenen Land seit Jahren schwächelt, hat zum einen mit dem Abgang vieler starker einheimischer Spieler in finanzstärkere Ligen im Ausland zu tun. Zum anderen aber auch damit, dass in vielen Stadien die Zeit nicht erst seit der „samtenen Revolution“ von 1989 stehengeblieben zu sein scheint. Zwar lassen ausgeblichene Schalensitze und zugewachsene Stehränge das Herz eines jeden Fußballnostalgikers höherschlagen, auf den modernen Stadiongänger wirken sie jedoch eher abschreckend. Und die Sicherheitsbehörden schauen mittlerweile auch in Tschechien genauer hin, was zu Einschränkungen beim Fassungsvermögen oder gar zu Komplettsperrungen führt.
Zudem drängen seit Jahren immer mehr teilweise mit viel Geld ungewissen Ursprungs aufgepumpte Kleinstvereine in den Profifußball, die oft weder über einen großen Anhang noch über eine geeignete Stadioninfrastruktur verfügen. So musste etwa der 1. SC Znojmo nach dem Aufstieg in die erste Liga seine Heimspiele im 70 Kilometer entfernten Brno austragen, zog der FK Pardubice während des Neubaus seines Stadions gar ins 120 Kilometer entfernte Prag um. Wenn dann nicht gerade einer der „großen Vier“ (Sparta Prag, Slavia Prag, Baník Ostrava, Viktoria Plzen) vorbeikommt, knackt auch heute noch so manche Erstliga-Partie kaum die 1.000er-Zuschauermarke. Es verwundert daher kaum, dass die 20 bestbesuchten Spiele in der Geschichte der höchsten tschechischen Liga alle in den 1990er Jahren und zudem auch alle im selben Stadion, dem seit Jahren ungenutzten und vor dem Abriss stehenden Stadion Za Lužánkami im mährischen Brno, stattfanden.
Und das mit großem Abstand bestbesuchte Fußballspiel im 21. Jahrhundert in Tschechien war absurderweise nicht einmal ein Ligaspiel, ein Europapokalspiel oder gar ein Länderspiel, sondern vielmehr das Abschiedsspiel für den über das Gebiet um Brno hinaus kaum bekannten Petr Švancara, das im Jahr 2015 gut 35.000 Zuschauer in ebenjenes, extra für diese Partie einmalig wiederhergerichtete Stadion Za Lužánkami lockte.
Kontinuierlich steigenden Zuschauerzuspruch können lediglich die beiden Prager „S“-Vereine, Sparta und Slavia, vorweisen, die ihren Zuschauerschnitt in den vergangenen Jahren – trotz erheblich gestiegener Eintrittspreise – um etwa 50 Prozent steigern konnten und regelmäßig ausverkauft melden. Während man vor einiger Zeit noch gemütlich eine halbe Stunde vor Spielbeginn am Letná-Stadion bzw. der Eden-Arena – dem modernsten Stadion Tschechiens und Austragungsort des UEFA Super Cups 2013 zwischen dem FC Bayern München und dem Chelsea FC – an der Tageskasse ein Ticket auf der Haupttribüne für 12 Euro bekam, muss man heute für normale Ligaspiele mindestens das Doppelte und für die großen Derbys und Europapokalspiele neben einer Mitgliedschaft sogar ein Vielfaches dieses Preises einplanen. Grundsätzlich ist allerdings ein Stadionbesuch in Tschechien immer noch eine günstige Angelegenheit und kostet mitunter keine 5 Euro.
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Luxemburg. Geschichte einer Fußball-Liebe
Pivo, Klobasa und Amateurfußball
Den größten Reiz übt aber sicherlich ein Besuch beim tschechischen Amateurfußball aus, der zwar nicht formal, gefühlt aber schon unterhalb der ersten Liga beginnt. „Jedno pívo prosím“ ist vermutlich der wichtigste Satz, den man bei einem Besuch auf einem tschechischen Sportplatz („hřiště“) kennen muss. Denn mit Deutsch oder gar Englisch kommt man auf dem Land in Böhmen oder Mähren oft nicht weit. Also „Jedno pívo prosím“- ein Bier, bitte. Gerne auch zwei (dva) oder drei (tři). Und wenn der Wirt dem durstigen (und der Sprache halbwegs mächtigen) Fußballinteressenten anschließend Zahlen um die Ohren wirft, bevorzugt „10“ (deset), „11“ (jedenáct) oder „12“ (dvanáct), haben diese ausnahmsweise nichts mit dem runden Leder zu tun, sondern mit dem Stammwürzegehalt des Gerstensaftes. Keine Angst übrigens, wenn man den Menschen hinter dem Zapfhahn nicht versteht, denn sprachliche Verständigungsprobleme werden in der Regel mit dem ungefragten Ausschank eines „12ers“ gelöst.
20 Bier für acht Mark gab es übrigens entgegen anderslautender Behauptungen in einer berühmt-berüchtigten Hopper-Doku im Deutschen Sportfernsehen (DSF Reportage - Die Groundhopper) nie. Trotz der zuletzt spürbaren Preissteigerungen in allen Bereichen in Tschechien lässt sich der (Bier-)Durst allerdings immer noch deutlich günstiger stillen als hierzulande. Wenn es auch mal alkoholfrei sein darf – was angesichts einer strengen 0,0-Promille-Grenze besonders für Autofahrer wichtig ist –, bietet sich eine frisch gezapfte „Kofola“, das tschechische Pendant zu koffeinhaltigen Brausegetränken berühmter amerikanischer Hersteller an. Und gegen den kleinen oder großen Hunger gibt es auch ein Hilfsmittel: „A klobásu prosím“ - eine dieser berühmt berüchtigten pikanten und sehr mächtigen Grillwürste, bitte. Entweder vom Grill oder – besonders schmackhaft – aus dem Räucherofen. Dazu Senf und im Idealfall auch noch frischen Meerrettich. Oder auch mal Stockfisch („treska“) wie in Úvaly oder herzhaften Kartoffelpuffer („Bramborák“) bei Admira Prag. Hungrig und durstig bleibt hier jedenfalls niemand. Und das gerne auch zur bevorzugten Anstoßzeit für Fußball in Tschechien, samstags und sonntags um 10:15 Uhr. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die tschechische Sprache mit dem Verb „fandit“ über ein eigenes Wort für den Begriff „begeisterter Fan sein“ verfügt.
Das Schöne am runden Leder in Tschechien ist, dass es von der obersten bis zur untersten Liga keinen Verein gibt, der nicht zumindest eine Sorte Bier vom Fass und frische Bratwurst vom Grill anbietet. Und die sollen ja schließlich nicht schlecht werden. Manchmal ist der Konsum des frischen Gerstensaftes auch nötig, denn bei aller für osteuropäische Verhältnisse unerwarteten Gelassenheit des Drumherums lässt das Niveau des tschechischen Amateurfußballs teilweise doch arg zu wünschen übrig. Besonders in strukturschwachen Regionen leiden die Vereine unter Spielerschwund, sodass mancherorts kein geregelter Jugendspielbetrieb und erst recht kein geregelter Seniorenspielbetrieb stattfinden kann. Damit die Fußballer trotz ihres jungen bzw. fortgeschrittenen Alters trotzdem noch dem schönsten Hobby der Welt nachgehen können, werden in diesen Regionen die Altersgrenzen des Herrenbereichs etwas großzügiger gehandhabt. Und so kann es einem dann schon einmal passieren, dass man bei einem Spiel der untersten Liga im Bezirk Ustí nad Labem einen 15-Jährigen gemeinsam mit einem 55-Jährigen auflaufen sieht.
Lohn der Mühe korrekter tschechischer Aussprache
Der Erwerb von Grundkenntnissen der tschechischen Sprache zahlt sich übrigens nicht nur aus, um sich während eines Spiels zu verköstigen oder die Spielpläne der regionalen und überregionalen Wettbewerbe („soutěže“) auf der etwas unübersichtlichen, aber dafür umso detailreicheren Webseite des tschechischen Fußballverbandes FAČR (www.fotbal.cz) zu studieren. Er öffnet einem auch im wahrsten Sinne des Wortes viele Türen. Sei es beim alten, inzwischen abgerissenen Stadion Eden (inklusive gemeinsamem Mittagessen mit dem Sicherheitsmitarbeiter in dessen Kabuff am Eingang), dem Stadion Strahov (mit einem Fassungsvermögen von 250.000 Zuschauern immer noch das größte Stadion der Welt, das inzwischen allerdings stark verfallen) oder in vielen auf den ersten Blick verschlossen scheinenden Vereinsgaststätten.
Und auch eine korrekte Aussprache der jeweiligen Austragungsorte – nein, es spielt nicht „Schiddim“ gegen „Schritz“, wie es in der berühmten DSF-Reportage zu hören ist, sondern Chrudim gegen Krč, und auch die berühmten Zäune, die es bei uns nicht mehr gibt, befinden sich nicht in „Prostelwitsch“ sondern in Prostějov – kann sich trotz aller hierfür notwendiger Zungenverrenkungen bezahlt machen. Denn mit fachkundiger – und der Erfahrung nach gerne gegebener – einheimischer Hilfe findet man jeden noch so abgelegenen tschechischen Sportplatz und kann dann bei der einen oder anderen kulinarischen (und vielleicht sogar spielerischen) Köstlichkeit einen entspannten Tag verbringen.
„Fandíme českému fotbalu“ – wir lieben und feiern den tschechischen Fußball!
„Die legendäre DSF-Doku“
Im Jahr 1999 produzierte das Deutsche Sportfernsehen (DSF) in der Reihe Reportage einen Film mit dem Titel „Die Groundhopper“. Begleitet wurde zum einen der deutsche Nottingham-Fan Ebby. Und zum anderen das Trio Jens-Uwe, Tom und Marcel.
Die drei fuhren mit dem Auto in die Tschechische Republik, um dort ein Groundhopping-Wochenende zu verleben. Nicht alles verlief wie geplant und in Zeiten ohne Smartphone musste improvisiert werden, dennoch floss reichlich Bier, gab es unterhaltsame Aussagen der Protagonisten, falsch ausgesprochene Ortsnamen und den obligatorischen Umbro-Pullover. Der Off-Kommentar tat sein Übriges, dass der Beitrag in der deutschen Groundhopping-Gemeinde heute einen Kultstatus genießt.
Produzent Thomas Trimborn berichtete Zeitspiel auf Nachfrage: „Diese Reportage war die am meisten wiederholte Sendung im DSF. Niemand konnte ahnen, welche Auswirkungen dieses Stück bis heute haben wird. Wunderbar, wenn es immer noch gefällt und Fußballfans inspiriert.“ Zu sehen die die Doku hier.
Zusäzliche Texte zum Leitartikel "Tschechien. Groundhoppers Dream" (nicht im Heft, nur Online)
Interview mit "The Blansko Klobasa"
The Blansko Klobása, das sind der Waliser Ralph Davies und die beiden Engländer Craig Binding und Chris Wing. Sie leben seit 13 (Craig), 25 (Ralph) und 30 (Chris) Jahren in der Tschechischen Republik. Ihr Blog ist zu finden unter https://blansko.wordpress.com, bei Twitter/X @Blansko Klobása. Wir haben mit Ralph über Groundhopping in Tschechien gesprochen.
Letenská láska - Die Liebe zum Letná
Über die Liebe zum Stadion Letná und der Sparta
Von Jan Dvořák
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Dann jetzt unsere Ausgabe #36 ordern, in der wir noch mehr über Tschechien und seinen Groundhoppers Dream berichten