ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #30

 Wie Fans ihr Stimmrecht freiwillig opfern

(Von Bernd Sautter)


Gegen den modernen Fußball? Von wegen. Die Mehrheit ist für modernen Investorenfußball. Beispiel: Traditionsvereine. Dort tauschen Mitglieder bereitwillig ihr Stimmrecht ein. Sie erhalten dafür eine ungewisse Hoffnung auf sportlichen Erfolg. 

 

 

Philipp Markhardt hat alles mitgemacht. Turin und Paderborn. Markhardt war einer der führenden Köpfe der „Chosen Few“. Die HSV-Ultragruppe hat sich in den Neunzigern formiert. Markhardt war mittendrin. Rein sportlich erlebt Markhardt mit den HSV nicht unbedingt die glanzvollste Ära. Sein erstes Spiel im Stadion: eine Heimniederlage gegen Wattenscheid. Weitere folgen. Bei leicht steigender Niederlagen-Häufigkeit. Egal. Der Dino wird niemals untergehen. Aber das Ding Ende Mai 2014 ist selbst für Markhardt eine Niederlage zu viel. Definitiv! Wenn man so will, gibt er sich geschlagen gegenüber der Mitgliedermehrheit seines eigenen Vereins. So ist Demokratie. Muss man akzeptieren.

Im Vorfeld der entschiedenen Abstimmung engagieren sich die „Chosen Few“ im Verbund mit anderen Gruppen in der Kampagne „HSV – not for sale“. Gegen eine sogenannte Ausgliederung. Also gegen eine Abspaltung des Profigeschäfts aus dem Verein. Workshops, alternatives Konzept, Leute gewinnen, SupportersClub, Fanclubs, bekannte HSVler einbinden, Social Media, Pressearbeit – das ganze Programm. Sogar der legendäre Manager Peter Krohn ist gegen die Ausgliederung. Namhafte ehemalige HSV-Aufsichtsräte sind dagegen. Aber am Ende ist alles vergebens. Gerade eben haben mehr als 9.000 HSV-Mitglieder für das Konzept HSVPlus gestimmt. Amtliche 86,9 Prozent. Aus Sicht der „Not-for-Sale“-Szene ein absolutes No-Go. Glatte Selbstverstümmelung ihres Traditionsvereins. Die Szene trottet mit hängenden Mundwinkeln aus dem Stadion. Keiner sagt was. Die große Leere live. Der HSV wird niemals untergehen … oder vielleicht doch? Gerade eben? Erstmal ein Holsten am Stellinger Bahnhof. Oder auch zwei.

 

Wie die Selbstverzwergung beginnt

Das Thema Ausgliederung der Lizenzspielerabteilung steht spätestens seit Mitte der Neunzigerjahre auf der Tagesordnung mancher Profiklubs. Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt und Bayern München schaffen zügig Tatsachen, am Beginn der Nullerjahre. Seither ist der BVB an der Börse notiert. Der Hamburger SV, der VfB Stuttgart und der 1. FC Kaiserslautern ziehen in den Zehnerjahren nach. Auch Borussia Mönchengladbach, Werder Bremen und der 1. FC Köln sind ausgegliedert. Dort gehört jedoch die Profiabteilung noch zu 100 Prozent dem Verein. Von den aktuellen Bundesligisten sind nur noch vier eingetragene Vereine in Reinkultur übrig, also inklusive Profi-Betrieb. Das sind Mainz 05, Union Berlin, Schalke 04 und der SC Freiburg. Engagierte Fans und Ultras verabscheuen die Konstrukte aus Management GmbH, AG oder KGaA, die die ohnehin komplizierten Strukturen der Traditionsvereine noch undurchsichtiger machen. Der Abstand von Fans und Profibetrieb wird noch größer. Fans, in diesem Fall Mitglieder, hängen üblicherweise mit ganzem Herzen am Verein. Für aktive Fanszenen sind Mitbestimmungsrechte unantastbar. Es geht ums Grundsätzliche: Der Kommerzialisierung mit den vielen zweifelhaften Investoren darf die Tür kein Spaltbreit geöffnet werden. Ausgliederungsbefürworter führen dagegen rechtliche Gründe an, unter anderem den drohenden Verlust der Gemeinnützigkeit. Sie wollen Handlungsfreiheit und moderne Unternehmensstrukturen. Zu viel Geld sei im Spiel, dafür ist ein Verein nicht geschaffen, sagen sie. Die Argumente klingen vernünftig, aber sie sind Ablenkungsmanöver. Tatsächlich geht’s um Geld, um frisches Geld, um nichts als Geld. Fachjargon: Strategische Beteiligungen von Investoren.

 

Wenn das Geld stinkt

Fußballstadien werden gerne gepriesen als letzte Orte, an dem Menschen zusammenkommen. Alle Milieus, alle Einkommensklassen, alle Überzeugungen werden für einige Stunden vereint unter denselben Vereinsfarben. Doch wenn es um Mitbestimmung geht, sieht die Sache anders aus. Es läuft wie üblich, möchte man meinen: Wer zahlt, bestimmt. Wer das Geld gibt, hat die Macht. Im deutschen Fußballbetrieb ist die Mitbestimmung tiefer verankert als in den Systemen anderer Länder. Trotzdem gilt auch hier: Der Einfluss der Mitglieder schrumpft, unter anderem durch Ausgliederungen. Viele Fanszenen erkennen das. Sie kritisieren, dass sich sportlich und wirtschaftlich Verantwortliche von demokratischer Kontrolle entfernen. Dazu kommt, dass Fanszenen niemanden pauschaler verabscheuen als fremde Investoren, die sich Teile ihres geliebten Vereins billig unter den Nagel reißen. Die Gräben könnten kaum tiefer sein. Sie führen entlang der großen Debatte über die Grenzen des Fußballwachstums. Die Liebe zum Verein tritt an gegen ein nebulöses Versprechen, mit der frischen Kohle würden wieder bessere Zeiten anbrechen, gaaanz sicher. Die Einen verteidigen Nähe, Mitsprache und Gemeinnützigkeit gegen Kommerzialisierung, Turbokapitalismus und Neoliberalismus. Die Anderen, angeführt vom arrivierten Establishment, kämpfen für Zukunftsfähigkeit und stellen neue sportliche Höhenflüge in Aussicht. Slogan der offiziellen HSVPlus-Kampagne für die Ausgliederung: „Aufstellen für Europa.“ Slogan der vereinsoffiziellen Kampagne pro Ausgliederung beim VfB Stuttgart: „Ja zum Erfolg.“ Ganz schön schlicht. 

 

Die Idioten in der Kurve

Protest ist an dieser Stelle bitter notwendig. Könnte aber zu wenig sein. Die aktive Szene Hamburg beschließt, die demokratischen Strukturen zu nutzen, solange sie zur Verfügung stehen. Jetzt braucht es vereinsinterne Opposition und den schnellen Gang durch die entsprechenden Gremien. Kompliziert genug. Vorteil Hamburg: Im Gegensatz zu anderen Kurven ist die HSV-Szene in großer Zahl Mitglied im Verein – namentlich diejenigen, die sich hinter den Bannern von „PopTown“ und „ChosenFew“ versammeln. Zugleich sind viele organisiert im HSV SupportersClub, der einer offiziellen Fanabteilung gleich kommt. Aus diesem Netzwerk heraus formiert sich die Kampagne „HSV – not for sale“. Kurve gegen Kapital. Die Herrschaften auf Kapitalseite kritisieren zwar die Umgangsformen in der Kurve, benehmen sich aber selbst nicht so, wie es sich gehören würde. Es wird ordentlich Stimmung gemacht, auf beiden Seiten. Beim HSV schwingt der Verdacht mit, dass eine Ausgliederung auch dazu verwendet wird, unbequeme Mitglieder mundtot zu machen. Philipp Markhardt erinnert sich: „Wir wurden nur belächelt. Für die waren wir nur die Idioten in der Kurve.“ Was Markhardt in Hamburg spürt, ist für Stuttgart belegt. 

 

Beim VfB Stuttgart bringt Präsident Wolfgang Dietrich die Ausgliederung ins Ziel. 75 Prozent Zustimmung sind notwendig. 84,2 Prozent werden erzielt – bei der Abstimmung im Jahr 2017. Mit Daimler steht ein vertrauter Investor bereit. Der Zirkel um den Stuttgarter Präsidenten nimmt sich Hamburg zum leuchtenden Vorbild. Was dort funktioniert hatte, soll in Stuttgart ebenfalls zu erreichen sein. Entsprechend ignorant tritt die Stuttgarter Führung gegenüber kritischen Mitgliedern auf. Der altvordere Präsident Dietrich ist überzeugt: Mit denen zu diskutieren, das führt zu nichts. Zudem stellen VfB-Kommunikationsberater fest, dass zahlreiche Ausgliederungsgegner keine Vereinsmitglieder sind. Folgerichtig zielt die offizielle Kampagne „Ja zum Erfolg“ darauf ab, die schweigende Mehrheit zu mobilisieren, also alle Fans außerhalb der kritischen Szene. Man will diejenigen zur Stimmabgabe bewegen, in Erwartung des nächsten großen Sieges in Stadion gehen oder vor den Fernsehern sitzen. Im Vorfeld der Abstimmung wird von der Haupttribüne aus mit dem Finger in die Kurve gezeigt und gefragt: Wollt ihr von denen regiert werden? Man nennt es Drohkulisse. 

Der VfB steht damit in der Tradition, die der Urvater der modernen Fanverachtung begründet hatte: Uli Hoeneß. „Eure Scheiß-Stimmung, da seid ihr doch dafür verantwortlich und nicht wir!“, schwadronierte der hochrote Hoeneß bei seiner legendären Wutrede 2007. „Was glaubt ihr eigentlich, wer euch alle finanziert? All die Leute in der VIP-Loge, denen wir das Geld aus der Tasche ziehen!“ Die Geringschätzung der Kurve hat sich bis heute erhalten. Selbst amtierenden Präsidenten gegenüber. Wer im Ruf steht, ein Fan-Präsident zu sein, steht gerne unter Chaos-Generalverdacht. In Stuttgart Claus Vogt. Bei Hertha BSC Kay Bernstein. Gedächtnisprotokoll von den besseren Plätzen: „Die kommen aus der Kurve, können doch nichts!“ „Nette Folklore, übrigens diese Choreo.“ „Egal was wir machen, die kommen sowieso.“ Arrogant? Vielleicht. Man kann sich’s ja leisten. 

 

Der Kampf um die Mehrheit

Zur Wahrheit gehört auch: Selbst bei großen Traditionsvereinen vertritt die aktive Fanszene eine Minderheitsposition. Die Mehrheit sitzt woanders. Auf den besseren Plätzen und vor den Fernsehern in aller Welt. Der FC Bayern zählt rund 300.000 Mitglieder. Schalke und Dortmund liegen jeweils deutlich über 160.000. Beim Hamburger SV haben rund 90.000 Mitglieder einen Mitgliedsausweis. Die Vereine haben gehörig an Volumen gewonnen. Wohlgemerkt: Nicht weil sich die Leute für Vereinspolitik interessieren. Die Meisten treten ein, weil sie günstige Tickets fürs Stadion bekommen wollen – oder überhaupt welche. Die Vereine befeuern das. Mitgliedschaft als Kundenbindung. Einkaufsvorteile im Fanshop und bunte Mitgliedermagazine gibt’s auch. So holen die Klubs zunehmend ihre TV-Fans in den Verein. Wer wirklich das Schicksal mitbestimmen möchte, offenbart sich an den jeweiligen Versammlungen. Zu den außerordentlichen Hauptversammlungen erscheint nur ein Bruchteil der Mitglieder. Ein Mangel an Demokratie? Wohl kaum. 

Wem sein Verein am Herzen liegt, investiert die Zeit. Nur diejenigen, die wegen Tickets oder anderer Benefits eingetreten sind, lassen sich abschrecken. Von den acht Stunden Versammlungsdauer ebenso wie von der Anreise.

 

Beim Hamburger SV stimmen genau 9.702 Mitglieder ab, als es um die Ausgliederung geht. Beim VfB werden 9.099 Stimmen gezählt, obwohl fast 13.500 Mitglieder im Stadion sind. Die enorme Differenz zwischen Stimmen und anwesenden Mitgliedern kann der VfB nicht erklären. Hinter den Kulissen ist deutlich: Bei der entschiedenen Abstimmung kommt es zu einer technischen Panne. Mit der Folge, dass mehr als 3.000 Stimmen nicht in die Auszählung gelangen. Das technische Versagen wird nicht verfolgt. Die Vereinsführung jubelt über das gewünschte Ergebnis, festgehalten vom offiziellen Notar, der schließlich für die Technik nicht verantwortlich ist. Damit entspricht die Abstimmung den Prognosen des VfB-Establishments. Man taxiert im Vorfeld die Gegenstimmen auf rund 1.500. Um die 75-Prozent-Hürde zu überspringen, sollten also deutlich mehr als 6.000 Mitgliedern mobilisiert werden. Fachjargon: die schweigende Mehrheit. Zur Abstimmung wird jedem Mitglied am Eingang ein Gratis-Trikot überreicht. Die VfB-Mitglieder stimmen mit großer Mehrheit für die Ausgliederung. 


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Die Mittel der Wahl

Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage berechtigt: Was braucht es, um aus dem Protest Einzelner heraus eine Mehrheit hinter sich zu versammeln? Echte Kampagnenarbeit muss geleistet werden. Bestehende Netzwerke im Vereinsumfeld müssen ausgebaut werden. Eine genaue Kenntnis der Gremien, ihrer Besetzung und dem Standpunkt jedes einzelnen Gremienmitglieds ist ebenfalls Voraussetzung. Darüber hinaus braucht man juristische Expertise. Volles Engagement sowieso. Vereinsdemokratien sind Sonderfälle der Meinungsbildung. Im Gegensatz zur politischen Entscheidungsfindung fehlen Parteien und Fraktionen – und damit eine eindeutige Zuordnung von Kandidatinnen und Kandidaten zu den inhaltlichen Positionen, für die sie antreten. Selbst in aufgeblähten Traditionsvereinen werden Einzelpersonen gewählt. Mitglieder wählen häufig Kandidatinnen und Kandidaten, von denen sie nur das wissen, was im kurzen Absatz drin steht, den sie neulich in den Vereinsmedien gelesen hatten. Dort sind üblicherweise verzeichnet: Beruf, Familienstand und Anzahl der Kinder. Und dass alle nur das Beste für den Verein wollen. Wie sich die Bewerbenden zu Ausgliederungen oder anderen wichtigen Entscheidungen verhalten, das steht dort nicht drin – und zwar aus gutem Grund. Ein deutlicher Standpunkt könnte schädlich sein fürs Gewähltwerden. Immer hübsch konsensfähig bleiben. Der Verein steht über allem.

Letztlich wissen alle Bewerbenden, dass nur ein Argument wirklich mehrheitsfähig ist: sportlicher Erfolg. Darauf kann man sich zügig einigen. Es ist kein Zufall, dass der deutsche Dauermeister der letzten zehn Jahre mit Abstand die meisten Mitglieder hat. Bei den Mitgliedern der anderen Traditionsvereine ist die Sehnsucht nach Erfolgen so groß, dass sie alles andere überstrahlt. Was die HSV-Ausgliederung betrifft, stellt Philipp Markhardt fest: „Wenn du den Leuten erzählst, es wird wieder so wie früher, dann wollen die das glauben. Markhardt erinnert sich an Karl Gernandt, der den Mitglieder verspricht: „Gebt mir drei Jahre und der HSV ist wieder in Europa.“ Gernandt ist zu diesem Zeitpunkt das Sprachrohr von Investor Klaus-Michael Kühne. Er tritt auf als designierter Chef des neuen Aufsichtsrats. In diesem Sinne argumentiert auch VfB-Präsident Dietrich, der den VfB Stuttgart per Zeitungsinterview in die Top 3 der Bundesliga hochjazzt. 

 

Die letzte Rettung

Auch eine Etage tiefer zieht die Macht des Geldes. Zum Beispiel in Kaiserslautern – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass in Lautern das neue Geld, das man einnehmen muss, bereits ausgegeben ist. Überall rote Zahlen. Also wird ausgegliedert. In der letzten Phase sogar bemerkenswert geräuschlos: mit runden 92 Prozent Zustimmung. Am Betzenberg sehen alle ein: Frisches Geld, woher auch immer, ist die einzige Möglichkeit, den Klub am Leben zu erhalten. Zu allem finanziellen Übel kommt hinzu, das die roten Teufel zum fraglichen Zeitpunkt in der dritten Liga stecken. Also wird die Faninitiative namens „Perspektive FCK“ in den Prozess der Ausgliederung eingebunden. Verabschiedet wird ein Vier-Säulen-Modell der möglichen Investoren. Später stellt sich heraus: Die ursprünglich zweite Säule (regionale Investoren) rettet den Verein. Manchmal erübrigen sich Dinge von allein. Zum Beispiel die erste der vier Säulen (Großinvestoren). Als solche sind der Luxemburger Flavio Becca und der berüchtigte Michael Ponomarev (zuletzt KFC Uerdingen) im Gespräch. Beide schießen sich selbst ins Aus – aus unterschiedlichen Gründen. Heute richten sich vereinzelte Fan-Proteste nur noch gegen die Pacific Media Group (PMG). Sie ist zwar nur mit weniger als zehn Prozent beteiligt, aber den Fans ein Dorn im Auge, weil sie auch andere Klubs im Portfolio hält.

 

Herausforderung Vereinsdemokratie

Ortswechsel zu einem echten Verein, inklusive Profibetrieb: dem eingetragenen Traditionsverein FC Schalke 04. Kein Zweifel, dass auch dort das Geld regiert. Jahrelang in Person von Clemens Tönnies. Der Fleischmogul erweckt den Eindruck eines präsidialen Großgönners alter Prägung. Jedoch: Nur als Präsident erscheint er groß, als Sponsor bleibt er einer unter vielen. Angesichts der klassischen Vereinsstrukturen mag man fragen: Ist auf Schalke wirklich alles besser? Fallen Mitgliederstimmen tatsächlich ins Gewicht, wenn es um den Profibetrieb geht? Selbst Verfechter der Vereinsdemokratie räumen ein, dass manche Hauptversammlungen durchaus zur Folklore verkommen. Auf Schalke stehen diese Zeremonien unter der Leitung des königsblauen Patrons Tönnies. 15 Jahre lang. Flankenschutz liefern unter anderem Peter Peters und Matthias Warnig, der für Gazprom im Aufsichtsrat sitzt. Tönnies tritt schließlich im Jahr 2020 zurück, in der Folge von Corona-Ausbrüchen in seinen Fleischereibetrieben. Freiwillig, sagt er. Nicht ganz freiwillig, behaupten Andere. Er musste geschoben werden. Fan-Proteste zeigen Wirkung. Verbunden mit der Befürchtung, dass aus den Protesten konkrete Abwahlanträge werden. Viele, die sich gegen Tönnies aussprechen, sitzen in den Gremien an wichtigen Positionen.

„Wenn man den Tönnies-Rücktritt betrachtet“, betont der Schalker Stefan Barta, „muss man vorne anfangen: bei ViaNOgo.“ Barta ist schon im Jahr 2013 mit von der Partie, als sich das königsblaue Volk gegen eine Kooperation mit dem dubiosen Ticketvermarkter Viagogo auflehnt. Trotz Protesten stellt die Vereinsführung lange auf stur. Satzungsdebatten werden angestrengt, ob Mitglieder überhaupt abstimmen dürfen über sowas. Juristisches Geplänkel, Rechtsmittel, einstweilige Verfügungen – das gesamte Programm. Vereinspolitik ist kein lustiger Frühschoppen. Wer etwas verändern will, braucht eine massive Kampagne, Standfestigkeit und geballten juristischen Beistand. Ein Kampf mit allen Mitteln: Der Verein wehrt sich unter anderem mit Stadionverweisen, weil die Initiative Flyer verteilt. So viele Schauplätze. 

Am Ende bleibt die Lage unübersichtlich. Über den Vertrag wird zwar abgestimmt, aber erst nach langem Hin und Her. Gegen den erkennbaren Willen der Versammlungsleitung. Das Wahlvolk stimmt gegen den Deal. Der Vertrag wird trotzdem geschlossen, nur um Tage später wieder aufgelöst zu werden. Der Initiative ist es gleich. ViaNOgo ist am Ziel. Die Initiative erhält unter anderem deshalb so starken Zulauf von der königsblauen Mitgliederbasis, weil der Deal mit dem Ticketbroker die Leute an der Stelle trifft, an der sie keinen Spaß verstehen: Eintrittskarten. Schließlich waren viele in den Verein überhaupt eingetreten, um besser an Tickets zu kommen. Die Vereinsführung hat sich mit ihrer Sturheit in der Ticketfrage praktisch selbst eine Opposition geschaffen. „Die Initiative hat damals Leute zusammenbracht, die sich vorher nicht kannten“, erinnert sich Stefan Barta. „Der Erfolg hat uns noch Jahre später geholfen. Die ViaNOgo-Leute waren eine wichtige Keimzelle der Proteste, die letztlich zum Rücktritt von Tönnies geführt haben.“

 

„Schalke ist kein Schlachthof“

Unter diesem Motto versammeln sich 1.300 Fans zu einer Menschenkette ums Stadion. Der Protest im Sommer 2020 richtet sich gegen Tönnies, aber nicht nur. „Die Pläne zur Ausgliederung lagen unterschriftsreif in den Schubladen“, sagt Stefan Barta. Mit dem Tönnies-Rücktritt einige Wochen später erledigt sich das. Vorläufig. Schalke ist zwar arm, aber stolz auf den eigenen eingetragenen Verein. Schalke gehört den Mitgliedern – inklusive der Abteilung, wegen derer alle in den Verein eingetreten waren: der Abteilung Profifußball. Noch vor wenigen Wochen bestätigt Vorstandschef Bernd Schröder, dass Ausgliederungen im Moment nicht auf der Agenda stehen. „Im Augenblick“, fügt er hinzu. Beim Hamburger SV und VfB Stuttgart sind diese Diskussionen endgültig entschieden. Der Fußballbetrieb hat sich der direkten Mitbestimmung entzogen. Trotz der 50+1-Regel, um die so viel gerungen wird. Die Profis haben sich weiter von ihren Fans und Mitgliedern entfernt. Wer demokratische Teilhabe als hohes Gut begreift, bekommt damit ein empfindliches Problem.

 

Nach den hilfreichen Holsten am Stellinger Bahnhof zieht Philipp Markhardt in die Pandora Bier Bar weiter, in die Stammkneipe in Eimsbüttel. Man trifft sich im Clubraum. Aber es geht nicht nur darum, den Ausverkauf des HSV zu betrauern. Es gibt schließlich nicht nur Fußball. Am Abend tritt einer der Sportkameraden in der NDR-Quizshow als Kandidat auf. Man quizzt um den Titel der „Leuchte des Nordens“. Das muss begutachtet werden. Aber Markhardt gibt zu: „Wir waren schwer angepisst und haben uns einen reingezogen. Irgendwann fragte mich Tamara Dwenger, was wir denn jetzt machen?“ 

Die Idee, einen eigenen Verein zu gründen, war bereits in der Welt. Niemand hatte ernsthaft damit gerechnet, dass sie eines Tages zur Umsetzung kommt. Markhardt erinnert sich: „Wir haben uns die Köpfe heiß geredet. Im Bier- und Ouzo-Rausch waren alle der Meinung, das wäre eine gute Idee. Wir haben uns auf Mittwoch verabredet, um zu sehen, ob das wirklich eine gute Idee ist. War’s immer noch, das erkannte man schon daran, dass wir am Mittwoch mehr Leute waren.“ Einige Wochen später wurde der HFC Falke gegründet. Mit Tamara Dwenger als Vorsitzender. Ein neuer eingetragener Verein auf den Wurzeln des alten Hamburger SV. Zwei Vorläufervereine des HSV finden sich im Namen wieder: der Hamburger FC von 1888 und der FC Falke 06. Das Trikot erinnert an den FC Germania. Die Falken starten ein Jahr darauf als Fan-Verein in der Kreisklasse. 

 

Nachbemerkung: Glückwunsch an die nicht-ausgegliederten Vereine SC Freiburg und Union Berlin zu ihren aktuellen Erfolgen im Europacup. Währenddessen kämpft die VfB Stuttgart 1893 AG auf Augenhöhe mit dem FC Schalke 04 e. V gegen den Abstieg aus der Bundesliga. Die HSV Fußball AG will nach mehreren Spielzeiten zurück in die Bundesliga. Beim HSV berichten Insider, dass sich mit der Ausgliederung die Atmosphäre deutlich verschlechtert hat. Beim VfB erledigt das ein Datenskandal in Folge der Ausgliederungskampagne. Das frische Geld ist in allen angeführten Fällen schnell futsch. Auch in Kaiserslautern wird die Zahlungsunfähigkeit nicht verhindert. Vielleicht sogar beschleunigt. Die zweistelligen Millionensummen vom Gros der Investoren treffen erst nach der Insolvenz ein. 


Dieser Text stammt aus Ausgabe #30 

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