ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #22
Fußball und Europa
(Von Hardy Grüne)
Was ist Europa, wo fängt es an, wo hört es auf? Eine Frage, die sich schwer beantworten lässt. Schon gar nicht durch den Fußball. Bei der EM 2021 wird auch in Baku gespielt – und damit in Asien. In der physischen Geografie gibt es nicht einmal eine Trennung zwischen Europa und Asien, wird beides als Eurasien zusammengefasst, stellt Europa lediglich die westliche Halbinsel Asiens dar. Die theoretischen Grenzen verlaufen dabei vom Ural bis zum Schwarzen Meer, am Atlantik bzw. dessen Nebenmeeren sowie am Mittelmeer, wobei die exakten Verläufe umstritten sind.
Sprechen wir von Europa, meinen wir jenes politische und wirtschaftliche Staatenbündnis, das eine lange gemeinsame Kultur- und Entwicklungsgeschichte aufweist und nicht zuletzt deshalb „Alter Kontinent“ genannt wird. Geschrieben wurde diese Geschichte von zahlreichen Einzelstaaten. Geprägt ist sie von wechselseitigen Einflüssen und Eroberungen, von Völkerwanderungen und Migration, von aufsteigenden und untergehenden Großreichen, von mächtigen Herrscherhäusern, die kriegerisch oder über geschickt lancierte Ehen expandierten sowie von gemeinsamen kulturellen und politischen Ideen bzw. technischen Innovationen. Europa ist eher ein Zusammengehörigkeitsgefühl als ein mit wissenschaftlicher Exaktheit definierbares Objekt.
Unser heutiges Europa besteht aus 47 Einzelstaaten mit etwa 700 Millionen Einwohnern und 10.531 Millionen Quadratkilometern Fläche. Russland liegt mit lediglich etwa 25 Prozent seiner Fläche in Europa; Kasachstan, das politisch und kulturell zumeist zu Zentralasien gezählt wird, ragt mit 5,4 Prozent seiner Landfläche nach Europa und die Türkei sogar mit nur drei Prozent - wobei dort allerdings zwölf Prozent aller Einwohner des Landes leben. Georgien, Armenien und Aserbaidschan liegen je nach Interpretation vollständig in Asien oder bestenfalls mit winzigen Anteilen in Europa. Zypern befindet sich geografisch in Asien, wird aber kulturell traditionell zu Europa gezählt.
Über Jahrhunderte war Europas Geschichte geprägt von Kriegen, Leid und Drama. Erst mit dem Aufstieg des Kontinents zur globalen Wirtschaftsmacht in der Industriellen Revolution wuchs die Sehnsucht nach friedlicher Koexistenz zwischen den Völkern und Nationen. Der Erste Weltkrieg (1914-18) mit fast zehn Millionen Toten war erster Katalysator für diesen Prozess und führte im Januar 1920 zur Bildung des Völkerbundes. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen großflächigen Zerstörungen in weiten Teilen Europas und weltweit 70 Millionen Opfer herrscht nun weitestgehend Frieden – es ist die längste friedliche Episode in der Geschichte des „Alten Kontinents“. Regionale Kriege indes gab es durchaus, so in Jugoslawien in den 1990er Jahren.
Wirtschaftliche Interessen und Friedenssehnsucht führten nach dem Zweiten Weltkrieg zur wohl größten Errungenschaft in der Geschichte des Kontinents: der Europäischen Gemeinschaft (heute EU), die ihre Anfänge im Jahr 1951 hat. Seit Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Blocksystems hat sie sich über den ganzen Kontinent ausgebreitet. Mit dem 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht wurde die Grundlage für offene Grenzen gelegt („Schengen-Abkommen“), der 1999 eine gemeinsame Währung (Euro) folgte. 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis „für über sechs Jahrzehnte Beitrag zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa“.
Wenngleich die Geschicke der EU nicht immer glücklich waren und das Bündnis spätestens mit dem Brexit und den Entwicklungen in Ungarn und Polen in eine Identitätskrise geriet, hat es den Kontinent nachhaltig verbunden und vor allem befriedet. Offene Grenzen, ein gemeinsames Parlament sowie eine gemeinsame Währung waren Meilensteine, die sich unsere Groß- und Urgroßeltern nie haben vorstellen können. Sie wuchsen auf mit alten Feindbildern von Frankreich oder Großbritannien, der Angst vor dem „russischen Bären“ und hartnäckigen Vorurteilen gegenüber südeuropäischer Lebensart und der dortigen Einstellung zur Arbeit.
Spätstarter UEFA
Fußball hatte einen signifikanten Anteil an diesem Erfolg, denn er verbindet die Menschen einerseits und bietet ihnen andererseits Gelegenheit zum friedlichen Wettstreit. Da ist die berühmte Weihnachtsepisode aus dem Ersten Weltkrieg, als deutsche und britische Soldaten am Heiligabend 1914 zwischen den Fronten miteinander kickten. Da sind rührende Geschichten aus der Zeit des „Kalten Krieges“, als sich Ost und West auf dem Fußballplatz trafen. Allerdings kann Fußball auch zum Hassverstärker werden, wie es im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war.
Fußball war und ist immer beides: Verbinder wie Spalter.
Europas Fußballgeschichte spiegelt, wie vergleichsweise lange der „Alte Kontinent“ in seinen nationalstaatlichen Grenzen verharrte. Fast überall auf der Welt hatte man sich bereits zu Kontinentalverbänden zusammengeschlossen, als 1954 endlich auch die UEFA entstand – 38 Jahre nach ihrem südamerikanischen Counterpart CONMEBOL. Ausgerechnet die Fußballwiege der Welt war Schlusslicht beim Aufbau grenzüberschreitender Strukturen. Der Weg dorthin war gepflastert mit Problemen und Herausforderungen. Anfangs beanspruchte Großbritannien eine Sonderrolle und sah sich selbst nach Gründung der lange ausgesprochen eurozentrischen FIFA (1904) über die 1871 gegründete „The Football Association“ als wahrer Weltverband. Die „FA“ kam ohne Landesbezeichnung aus, und vor allem das besitzanzeigende „The“ drückte aus, dass die Welt aus britischer Sicht keinen weiteren Fußballverband brauchte. Bis heute ist das Königreich mit gleich vier Mitgliedsverbänden in FIFA wie UEFA vertreten, nimmt die englische FA einen festen Sitz im internationalen Regelkomitee IFAB (International Football Association Board) ein.
Es ist bezeichnend, dass das Streben nach einem europäischen Verband sowie europäischen Vereins- wie Nationenwettbewerben nicht aus politischen Gründen forciert wurde, sondern aus wirtschaftlichen. Auch das hat Tradition. Schon in den Zwischenkriegsjahren war Europas Fußballgemeinde vor allem von ökonomischen Zielen angetrieben worden. Beginnend mit dem Mitropa-Cup, 1927 erstmals ausgespielt und initiiert von Geschäftsleuten und innovativen Funktionären, die zuvor in einigen Ländern Zentraleuropas für die Einführung des Berufsfußballs gesorgt hatten. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs waren es dann der 1955 eingeführte Europapokal der Landesmeister (heute „Champions League“), der als erstes den „Eisernen Vorhang“ überwand und gleichfalls von ökonomischen Interessen angetrieben war.
Geld ist ein kräftiges Werkzeug bei der Befriedung der Völker.
Europäischer Fußball wird aber nicht nur in Europa gespielt. Von Kasachstan, Georgien, Aserbaidschan, der Türkei, Zypern und Russland war schon die Rede. Deren Zugehörigkeit zur UEFA führt zur kuriosen Situation, dass es im Europapokal zum Duell zwischen dem FK Lutsch-Energija Wladiwostok, ein paar hundert Kilometer entfernt von Japan an der Pazifikküste ansässig, und dem CD Santa Clara Ponta Delgada, 1.400 Kilometer westlich vom europäischen Festland auf den Azoren im Atlantik spielend, kommen könnte. Fast 11.000 Kilometer wären dabei zu überwinden. Europäischer Fußball wird sogar auf der anderen Seite der Weltkugel gespielt! Mitten im Südpazifik zwischen Südamerika und Australien (Ozeanien) liegen einige der französischen DOM-TOM-Gebiete („Départements et territoires d’outre-mer“), die Überbleibsel der Kolonialzeit sind. Die dortigen Klubs aus Mayotte, Neukaledonien oder Tahiti können sich über den französischen Vereinspokal sogar für den Europapokal qualifizieren! Allerdings nur theoretisch, denn bislang hat ihre Spielstärke nie zu größeren Überraschungen gereicht. 1982 schaltete AS Central Sport Papeete aus Tahiti immerhin den damaligen Festland-Zweitligisten AS Béziers aus.
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Christoph Heshmatpours Erinnerungen an ein Jahr als Austauschstudent in Paris. Statt in Louvre und Co hat er sich dabei in einen leicht maroden Fußballklub verliebt. Sein Buch "Bienvenue en Banlieue Rouge" gibt es exklusiv bei Zeitspiel.
Eine kurze Geschichte des europäischen Gedankens im Fußball
Fußball lebte den europäischen Gedanken lange vor seiner politischen Umsetzung in Form der EU. Zwar entstanden die großen europäischen Wettbewerbe wie Europameisterschaft und Champions League ebenfalls erst nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde die UEFA 1954 als weltweit vorletzter Kontinentalverband gegründet (nur Ozeanien folgte 1966 noch), die Tradition eines grenzüberschreitenden Fußballs ist auf dem „Alten Kontinent“ jedoch ungleich älter. Im Grunde genommen geht sie zurück auf die Anfänge des Fußballs in den 1880er Jahren, der in seinem Kern sowohl international als auch versöhnend ist.
Während sich Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem von der Schwerindustrie geprägten Kontinent mit wachsendem Wohlstand entwickelte, breitete sich der in Großbritannien geborene Fußball überall aus. Er überwand Grenzen und verband Kulturen, setzte Impulse und ermöglichte internationale Sportvergleiche. Frühe Drehscheiben waren Orte wie Genf mit seinen internationalen Eliteschulen, das belgische Brüssel (ein Schmelztiegel der Kulturen) sowie Handels- bzw. Hafenstädte wie Hamburg, Liverpool oder Kopenhagen. Orte also, in denen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Regionen zusammenkamen, um das zu entwickeln, was wir heute „europäische Identität“ nennen.
Fußball war ursprünglich kein Arbeitersport, sondern verdankt seine Entwicklung dem Bürgertum. Insbesondere liberale Kaufleute, Bildungsbürger und Ingenieure sorgten für die Verbreitung des Spiels von den Britischen Inseln auf das kontinentale Festland und von dort in die Welt. Keine andere Sportdisziplin weist eine in Tempo und Dimension vergleichbare globale und soziale Ausdehnung auf, und so wurde Fußball nicht nur zum europäischen Sport, sondern schließlich zum Weltsport. Der Weg dorthin verlief entlang des wirtschaftlichen Aufschwungs Europas. Die Sehnsucht nach Frieden und der Wunsch nach gemeinsamem Handel waren die größten Antreiber für die Überwindung von uralten Vorurteilen und feindlicher Abgrenzung (Handel begünstigte allerdings zugleich den Kolonialismus, mit dem Fußball nach Asien und Afrika kam).
Dass Fußball in Europa derart rasant Karriere machte, hatte entscheidend mit innovativen Geschäftsleuten und Industriellen zu tun, die schon vor dem Ersten Weltkrieg aus dem ursprünglich elitären Fußball einen Gewerbezweig der jungen Unterhaltungsbranche machten, in dem auch Arbeiter willkommen waren – sowohl auf den Spielfeldern als auch auf den Tribünen. Damit wurde Fußball zur ersten europäischen Massenbewegung, die neben Landesgrenzen auch soziale Grenzen überwand. Im Fußball standen Arbeiter und Bürgerliche gemeinsam auf dem Platz bzw. den Tribünen.
Industrialisierung und Eisenbahnnetz
Entscheidender Impulsgeber war der Profifußball, der seine Wiegen in der Industrieregion zwischen Blackburn und Manchester im englischen Norden sowie dem schottischen Industriegürtel von Glasgow hatte. Dort standen sämtliche Bestandteile für eine expandierende Sportindustrie zur Verfügung: Stetig wachsende Einwohnerzahlen durch Zuzug arbeitssuchender Landarbeiter, viele Arbeitsplätze für Gebildete und Arbeiter sowie ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Entspannung und Unterhaltung in den Häusermeeren der sich ausdehnenden Großstädte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden in England und Schottland Zuschauerzahlen von mehr als 100.000 bei Fußballspielen registriert. Derartige Menschenmassen bei kulturellen Veranstaltungen waren ein Novum in der Weltgeschichte.
Die junge Fußballbewegung profitierte erheblich von den technischen Errungenschaften des industriellen Zeitalters. Allen voran der Entwicklung der Dampfmaschine, die zur Erfindung der Eisenbahn führte, was wiederum das Reisen revolutionierte. Nur so war es überhaupt möglich, dass in England ab 1871 um einen Verbandspokal gespielt werden konnte und 1888 mit der First Division die erste Profiliga der Welt ihren Spielbetrieb aufnahm. Ohne das wachsende Eisenbahnnetz wäre die Verbreitung des Fußballs in Europa deutlich schleppender verlaufen, wenn nicht unmöglich gewesen. Das gilt gleich auf mehreren Ebenen. Zum einen konnten die Spieler schlicht zum Spielort transportiert werden, zum anderen wurde Fußball über britische Ingenieure für Eisenbahntechnik in anderen Ländern verankert. Weil Aufbau der Schwerindustrie, Entwicklung des europäischen Eisenbahnnetzes, Ausbildung grenzüberschreitender Handelsstrukturen, Entstehung moderner Nationalstaaten sowie die Etablierung des Fußballs zur selben Zeit stattfanden, konnte Fußball zum ersten Weltsport werden.
In den 1890er Jahren avancierte Fußball zunächst zum „europäischen“ Sport, der sowohl in konfessionell geprägten Ländern wie Spanien, in angehenden Sozialstaaten wie Schweden als auch in den Kulturen des Ostens gespielt wurde. Die jeweiligen Initialzündungen kamen aus unterschiedlichen Quellen. So gründeten britische Kaufleute Klubs wie den Milan FBC, während in Großbritannien studierende Ausländer die von der Insel mitgebrachte Fußballbegeisterung in ihren Heimatorten über Vereinsgründungen fortlebten. Zweite zentrale Fußball-Verbreitungsplattform neben Eisenbahn, Schwerindustrie bzw. Handel waren internationale Bildungseinrichtungen. Im angenehmen Klima des Großraums Genf in der französischsprachigen Schweiz, wo die künftigen politischen und wirtschaftlichen Einflussträger Europas in elitären Lehranstalten ausgebildet wurden, spielte man bereits in den 1860er Jahren Fußball.
Walther Bensemann, 1920 Gründer des „Kicker“, sowie Vittorio Pozzo, der Italien 1934 und 1938 jeweils als Cheftrainer zum Weltmeistertitel führte, sind nur zwei von zahlreichen einflussreichen Fußballpionieren, die dort ihre Ausbildung genossen und in der Folge eine Internationalisierung des Fußballs einleiteten, die ihm eine völkerverbindende Wirkung verlieh. Fußball überwand sogar den seinerzeit populären Nationalismus, den er später allerdings wiederum befeuern sollte, weil sich die Nationen auf dem Spielfeld zum Wettstreit gegenüberstanden. Während sich Pozzo in den 1920er Jahren an Mussolinis Seite stellte, blieb Bensemann beseelt vom europäischen Gedanken und wurde zum glühenden Europäer. Ihm ging es vor allem um die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. 1923 sprach er in einem bemerkenswert politischen Leitartikel im „Kicker“ von einer Art EU und schrieb: „Jegliche Politik muss mit der Wahrung der eigenen Scholle enden und aus ethischen, sozialen und nationalen Gründe kenne ich nur ein Endziel, das erstrebenswert wäre, die Vereinigten Staaten Europas.“ Bensemanns persönliche Tragik war, dass er 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung aus Deutschland fliehen musste und im Schweizer Exil starb. Aus jenem Deutschland, über dessen opportunistischen Untertanengeist Heinrich Mann in seinem Roman „Der Untertan“ Hauptprotagonist Diederich Heßling sagen lässt: „Aber die Rasse ist wichtiger, und für meine Söhne bin ich dem Kaiser verantwortlich.“
Fußball als Sportsymbol „europäischer Kultur“
Während sich der Fußball über sämtliche Staatsgrenzen und kulturellen wie konfessionellen Grenzen ausbreitete, steckte Europa in Nationalismus und Kolonialismus fest. Ein fragiler Kontinent, dessen Weg zum Ersten Weltkrieg unvermeidlich schien. Überall zündelte es: Auf dem Balkan, wo nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ein Machtvakuum geblieben war. In Russland, wo das in exzessivem Luxus lebende Zarenregime die Zügel immer fester um sein Volk zog und es damit zur Revolution trieb. In Zentraleuropa, wo die Herrschaftshäuser im Zuge aufweichender Grenzen durch verstärkten Warenhandel und Personenverkehr Macht einbüßten. In den Kolonien Afrikas und Asiens, wo europäische Stellvertreterkriege tobten und ein antiquiertes Weltbild spiegelten.
Fußball expandierte unterdessen und wurde sogar zu einem der Botschafter der wirtschaftsmächtigen Staaten des „Alten Kontinents“. Das rückständige Albanien kam 1905 zum Fußball, als eine österreichisch-ungarische Militärauswahl in der Handelsstadt Shkodra auflief. Schon zehn Jahre zuvor hatten die Briten Henry Pears und James Lafontaine das Spiel ins damalige Konstantinopel gebracht, das heutige Istanbul. Dort leitete der englische Fußballpionier Horace Armitage bei Fenerbahçe das Training, während der deutsche Nationalspieler Emil Oberle beim Bau der berühmten Bagdad-Bahn half. Auf dem Balkan überwand Fußball unterdessen die ethnischen, konfessionellen und historischen Barrieren und konnte nach 1945 sogar zum ersten (und vielleicht einzigen) Bannerschild einer „jugoslawischen Identität“ werden. Fußball als Sportsymbol „europäischer“ Kultur.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte sich die europäische Fußballbewegung großflächig ausgebreitet und war seit 1904 über den Weltverband FIFA organisiert. Damit war das Spiel Vorreiter einer länderübergreifenden Organisation, die sich dem Austausch und der Begegnung von Nationen und Völkern widmete. Politik und Kirche bedienten sich längst des Fußballs für ihre Zwecke. Das erste DFB-Länderspiel 1908 in der Schweiz war auch ein politisches Ereignis, und die Kirchen setzten den Fußball ein, wenn sie in Afrika über Missionen versuchten, die dortige Bevölkerung für den christlichen Glauben zu gewinnen. Ein europäischer Sport wurde zum globalen Exportgut.
Zentral dafür war die Ausbildung einer europaweiten Struktur aus Vereinen, Verbänden, Spielklassen und Turnieren. Fußball war auch deshalb so erfolgreich, weil er Sieger und Verlierer hervorbringt – in der jungen Wettbewerbsgesellschaft der Jahrhundertwende ein reizvolles Attribut vor allem für die junge Generation. Antreiber beim Aufbau des Wettbewerbssystems waren wirtschaftliche Interessen. Erster grenzübergreifender Vereinswettbewerb war der 1897 von John Gramlick, Mitgründer des Vienna Cricket and Football Clubs, ins Leben gerufene „Challenge Cup“. Gramlick betrieb in Wien eine Fabrik für elektronische Ersatzteile und erkannte das ökonomische Potenzial eines Spitzenfußballs als Zuschauersport frühzeitig.
Ein Jahrzehnt später sorgten die Olympischen Spiele in London 1908 für das erste große europäische Fußballturnier, an dem Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Schweden und die Niederlande teilnahmen. 1912 liefen in Stockholm mit Ausnahme von Belgien, der Schweiz, Frankreich und Böhmen bereits alle großen europäischen Fußballnationen auf, sahen 25.000 Zuschauer einen 4:2-Finalsieg der britischen Amateurauswahl über Dänemark. Auch Deutschland war dabei und feierte einen 16:0-Rekordsieg über russische Hobbyfußballer. Binnen nicht mal einer Dekade war Fußball zum kontinentalen Massensport aufgestiegen – eine beeindruckende Karriere.
Treiber der Internationalisierung und frühen Professionalisierung waren vor allem die Vereine bzw. die hinter ihnen stehenden Geschäftsmänner und deren finanzielles Geschick. In Deutschland lockten Gastspiele britischer Profimannschaften schon vor dem Ersten Weltkrieg Kulissen von 10.000 und mehr Zuschauern an, was das Interesse weiterer Geschäftsleute und auch Politiker weckte. Fußball erhielt dadurch eine kulturpolitische, verbindende und versöhnende Dimension. Vor allem im Grenzraum zwischen Dänemark und dem Deutschen Reich sowie den Niederlanden, Belgien, Frankreich, der Schweiz und dem Habsburgerreich Österreich-Ungarn (zu dem bis 1918 auch Böhmen gehörte) gab es regelmäßig internationale Begegnungen. Und es kam sogar zu ersten grenzüberschreitenden Spielerwechseln. Für Hannover 96 lief 1913 der Schwede Axel Lyberg auf, der beim lokalen Reifenhersteller Continental arbeitete, Holstein Kiel hatte zwei dänische Nationalspieler in seinen Reihen, und Grenzstädte wie Straßburg, zwischen 1871 und 1918 zum deutschen Reichsgebiet gehörend, oder Konstanz waren im Fußball regelrecht „international“. Im Bodenseeraum existierte zwischen 1909 und 1913 sogar eine Spielklasse mit Teams aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. Nahezu mühelos überwand der Fußball die Grenzen und nationalen Befindlichkeiten.
Internationaler Spielbetrieb als politisches Werkzeug
Der Erste Weltkrieg, der im August 1914 begann, erwischte den europäischen Fußball eiskalt. Die Ligamannschaft von Hannover 96 war gerade auf einer vom erwähnten Axel Lyberg arrangierten Freundschaftsspielreise in Schweden und musste eilig zurückkehren nach Deutschland. Dort wurden britische Trainer wie William Townley, Deutscher Meister mit dem Karlsruher FV sowie der SpVgg Fürth, als „unerwünschte Ausländer“ interniert. Grenzüberschreitende Spiele gab es kaum noch, denn im Krieg dominieren engstirniger Nationalismus und destruktiver Patriotismus.
Die Zwischenkriegsjahre 1918 bis 1939 wurden zur ersten Blütezeit des internationalen Fußballs. Die Menschen wollten Entwicklung, Unterhaltung, Begegnung, Zerstreuung. In Frieden leben. Im April 1919 reiste Altona 93 als erstes deutsches Team wieder zu Freundschaftsspielen nach Schweden. Als Schweden auf Druck Großbritanniens im August 1919 weitere Spiele zwischen Teams der beiden Länder untersagte, richtete sich der Fokus auf die neutrale Schweiz. Das erste Nachkriegsländerspiel Deutschlands am 27. Juni 1920 in Zürich war einerseits ein Fußballspiel, vor allem aber war es eine diplomatische Veranstaltung. „Die Wichtigkeit des internationalen Sportverkehrs für die allgemeine Beziehung der Staaten ist bekannt“, sagte DFB-Präsident Felix Linnemann, der in der Nazizeit eine eher unrühmliche Rolle spielen sollte. Seinen Nationalspielern gab der DFB die Losung „Keine Fouls, keine Härte, Fairness jederzeit“ mit aufs Feld. Über den Sport fanden selbst verfeindete Kriegsgegner langsam zueinander. An Neujahr 1923 reiste die deutsche Auswahl erstmals nach Italien, und am 19. Oktober 1924 trat mit Tennis Borussia Berlin erstmals wieder eine deutsche Mannschaft zu einem Freundschaftsspiel in Paris an. Zugleich sorgten hartnäckiges Lagerdenken und grimmig verteidigte Feindbilder aber auch für Stillstand. An den Olympischen Spielen 1920 durften die als Kriegsschuldige ausgemachten Länder Deutschland und Österreich nicht teilnehmen – nicht zuletzt auf Geheiß von Großbritannien.
In den „Goldenen Zwanzigern“ wuchs Europa zusammen, lernte sich kennen, knüpfte Kontakte und Freundschaften über Länder- und Kulturgrenzen. Namhafte Spitzenmannschaften tourten über den Kontinent, maßen die Kräfte mit den lokalen Teams, feierten anschließend auf Banketten ihre Gemeinsamkeiten. In Zentraleuropa kam Profifußball auf und überwand in seiner Geschäftigkeit sämtliche Grenzen und Ressentiments. Auch politische Motivationen halfen. Der Aufbau einer europäischen Arbeitersportbewegung brachte das Proleriat zusammen. 1925 kam es in Frankfurt zur ersten Arbeiterolympiade. 1927 gab es die ersten Fußballduelle zwischen einer deutschen und einer sowjetischen Auswahl – organisiert ebenfalls von der sozialistischen Sportbewegung. Bei den Fußballturniere der Olympischen Spiele 1924 und 1928 in Paris bzw. Amsterdam traf Europas Fußball auf den Südamerikas, der mit Argentinien und vor allem Uruguay spielstarke Vertreter schickte. Mannschaften, die ihren Ursprung wiederum in Europa hatten und in Südamerika entwickelt worden waren, denn sie bestanden vornehmlich aus Angehörigen der zweiten Migrantengenerationen sowie im Falle Uruguays von Nachfahren nach Südamerika verschleppter Sklaven. Fußball verband die Welt.
Angetrieben wurde er inzwischen vollends von wirtschaftlichen Interessen. Allen voran dem Mitropa-Cup, dem wohl legendärsten Vereinswettbewerb der Zwischenkriegsjahre, der auf einer Idee der Meisl-Brüder aus Wien beruhte. Profifußball, das hatte sich gezeigt, braucht Spektakel, um refinanziert zu werden. Die Mitropa-Cup-Duelle zwischen den Wiener Mannschaften und Topteams wie Sparta Prag, Ferencváros Budapest, Bologna AGC oder Ambrosiana-Inter Mailand sorgten reihenweise für Zuschauerrekorde und waren in jeglicher Hinsicht ein Erfolgsmodell. Der Wettbewerb war zudem ein politisches Werkzeug, denn er überwand auch ideologische Grenzen wie die zwischen dem faschistischen Italien und Österreich.
Als 1939 der Zweite Weltkrieg begann, wurde der Fußball erneut mitgerissen. Es war ein fließender Übergang. Schon die WM 1934 in Italien, die erste auf europäischem Boden, war von Mussolinis Faschisten instrumentalisiert worden. Das Turnier 1938 in Frankreich stand bereits bedrohlich im Spannungsfeld der Zeit, das ein Jahr später zum Krieg führte. Nun war es der Fußball, der von der Politik instrumentalisiert wurde. Der so genannte „Anschluss“ von Österreich an das Deutsche Reich (1938) wurde mit einem Fußballspiel gefeiert, und Reichstrainer Herberger hatte den Auftrag, bei der WM in Frankreich eine Melange aus Wienern und Reichsdeutschen zu bilden. Die offenkundige Repräsentanz des nationalsozialistischen Deutschlands durch seine Fußballmannschaft löste im Auftaktspiel gegen die Schweiz prompt Anfeindungen des französischen Publikums aus.
Fußball, als Sport noch keine 50 Jahre alt, genoss eine hohe gesellschaftliche und politische Dimension, die ihn nun einholte. Auf dem grünen Rasen hieß es plötzlich, Partei zu ergreifen und sich patriotisch zu zeigen. Die großdeutsche Auswahl kickte gegen Satellitenstaaten wie Kroatien oder die Slowakei, statt gegen England, Frankreich oder gar Polen, das militärisch ausradiert worden war. Tatsächlich war es sogar der Krieg, der die respektvollen Verbindungen zwischen England und Deutschland, die sich 1935 in London sowie 1938 in Berlin noch freundschaftlich auf dem Fußballfeld begegnet waren (was beide Seiten propagandistisch ausschlachteten), langfristig in Ressentiments verwandelte. Der englische Historiker James Taylor: „Diese Rivalität geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück, der für die Briten nie zu Ende ging. Sie setzen ihn beim Fußball fort. Nicht so sehr die Spieler, aber die Fans.“
Fußball als Vorläufer einer europäischen Einigung
Nach dem Krieg wurde Fußball erneut zum europäischen Versöhner. Auch wenn die europäische Spaltung zunächst unüberwindbar schien, namentlich Deutschland mit seiner Nazivergangenheit im Abseits stand und 1950 bei der WM fehlte. Erneut war es die Schweiz, die den Bann brach und Deutschland in die europäische Fußballfamilie zurückholte. Im November 1950 liefen die Eidgenossen vor rund 115.000 Fans in Stuttgart auf, und die WM 1954, ausgetragen in der mitten in Europa gelegenen und im Krieg neutralen Schweiz, riss die von den Kriegsereignissen gezogenen Mauern endgültig ein. Im selben Jahr entstand die UEFA, ein Jahr später spielte man erstmals um den Europapokal der Landesmeister und beschloss die Einrichtung einer Europameisterschaft, die 1958 mit ersten Ausscheidungsspielen begann. Vielleicht noch wichtiger waren die zahlreichen Jugendturniere, die in den 1950er Jahren überall in Europa ins Leben gerufen wurden und bei denen der europäische Gedanke über den Fußball verbreitet wurde. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, deren Eltern und Großeltern sich im Krieg als Soldaten gegenübergestanden hatten, begegneten einander in den Jerseys ihrer Mannschaften, vertraten ihre Heimatstädte und Länder, lebten einen fröhlichen Patriotismus, der von Gemeinsamkeit und Wettkampfgedanken geprägt war, und nicht von Ressentiments, Machtspielen und Hass.
Damit folgte der Fußball einer politischen Entwicklung, die beispielsweise der britische Staatsmann Winston Churchill am 19. September 1946 in seiner „Rede an die akademische Jugend“ in Zürich angestoßen hatte: Die Bildung eines staatenübergreifenden Europas, mit dem der Kontinent in eine friedliche Zukunft steuern sollte. Europa, dieser seit Jahrhunderten von kriegerischen Konflikten heimgesuchte verdichtete Siedlungsraum, hatte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs endgültig genug von Leid und Zerstörung. Wobei parallel der „Kalte Krieg“ zwischen Ost und West bzw. zwischen Kapitalismus und Sozialismus neue Ressentiments aufwarf und im bildlichen Sinne eine Mauer bzw. einen „Eisernen Vorhang“ durch Europa zog.
Auch in diesem Falle fungierte Fußball als Eisbrecher, denn im sogenannten „Ostblock“ diente er als Mittel zum Zweck: Fußballerfolge sollten die Überlegenheit des Sozialismus demonstrieren. Das klappte sportlich durchaus (u.a. Ungarns WM-Elf 1954, Sowjetunion Europameister 1960, Jugoslawien EM-Finalist 1968), sorgte aber vor allem dafür, dass sich Sportler aus Ost und West weiter regelmäßig auf den Spielfeldern begegneten – auch wenn dies oft mit schweren Behinderungen verbunden war. Erneut wurde Fußball zum politischen Werkzeug. Am 21. August 1955 lief die DFB-Auswahl erstmals in der Sowjetunion auf und durchbrach damit das lange diplomatische Schweigen. Drei Wochen später reiste Bundeskanzler Adenauer nach Moskau und verhandelte über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern sowie die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen. Wolfgang Niersbach, später DFB-Präsident: „Der Termin der Begegnung 1955 fand zu einem Zeitpunkt statt, als Freundschaften zwischen beiden Ländern gar nicht möglich schienen. Es war die Zeit des Eisernen Vorhangs, es herrschte Eiseskälte auf dem politischen Parkett. In dieser Zeit war es schon ein großer Schritt, vielleicht sogar auch ein Wagnis, dieses Spiel in Moskau auszutragen.“
Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989-91 und dem globalen Siegeszug des Kapitalismus bzw. Neo-Liberalismus veränderte sich der Profifußball zum globalen Business. Spieler wurden verpflichtet, weil man neue Märkte erschließen wollte (Beckhams Wechsel 2003 zu Real Madrid erfolgte vor allem mit Blick auf die asiatischen Märkte), und die Verflechtung von Medienmacht, Politik und Fußball spiegelt wohl niemand anschaulicher wider als Silvio Berlusconi, der Italiens Fußball einerseits wirtschaftlich vom Fernsehen abhängig machte und andererseits den AC Mailand dazu benutzte, um seine nach dem Fußball-Ruf „Forza Italia“ benannte rechtsgerichtete Partei zu fördern. Die Abspaltung der führenden Klubs als „G14“ war derweil auch eine Reaktion aus der Flut neuer Kleinstaaten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, durch die sich etablierte Nationen wie Spanien, Italien und Deutschland um ihre Pfründe gebracht sahen. Damit wurde das über Jahrzehnte vorherrschende Solidarprinzip im Fußball aufgegeben und Fußball-Europa zu einer (mindestens) Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der nicht mehr Nation, Ethnie oder Region bedeutsam waren, sondern Geld. Selbst eine Europaliga der großen und finanzstarken Klubs ist inzwischen in greifbare Nähe gerückt und würde die Verbindung zwischen Vereinen wie Real Madrid oder Bayern München und KF Tirana oder IFK Helsinki vollends kappen.
Und so ist das über ein Jahrhundert gültige „Fußball verbindet“ zumindest im Spitzensport mehr denn je gefährdet.
Dieser Text stammt aus Ausgabe #22
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