ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #19

Großstadtfußball
Eine Annäherung in vier autobiografisch geprägten Kapiteln


Zeitspieler und Amateurkicker Tim Frohwein hat 35 seiner 36 Lebensjahre in München gewohnt – in einer Großstadt, in der mehr als 15 000 Erwachsene, Jugendliche und Kinder aktiv in Vereinen Fußball spielen und noch weit mehr Menschen regelmäßig auf Asphaltplätzen oder in Parks kicken. Gute Voraussetzungen, um zurückzublicken und dem Wesen des Großstadtfußballs nachzuspüren.

 

1. Großstädtische Bolzplatz-Subkultur 

 

Es war Anfang der 1990er Jahre, als meine Liebe zum Fußballspiel aufkeimte – auf rauem, lebensfeindlichem Untergrund: Wenige Gehminuten von meinem Elternhaus im Münchner Osten entfernt lag der „Hacki“, ein mit Eisenstangentoren ausgestatteter asphaltierter Bolzplatz, auf dem ich mich zum Ende meiner Grundschulzeit nahezu täglich mit Freunden zum Kicken traf. Der Hacki war ein Treffpunkt für viele Kinder und Jugendliche meines Heimatviertels Berg am Laim, das damals wie heute unter den Münchner Stadtvierteln einen eher weniger guten Ruf genießt: es finden sich dort viele optisch weniger ansprechende Wohnblöcke, ein vergleichsweise hoher Anteil der Bewohner stammt aus sozial benachteiligten Schichten und in der städtischen Kriminalitätsstatistik schneidet „BAL“ nie sonderlich gut ab.

 

Getroffen hat sich die Jugend auf dem Hacki nicht nur zum Fußballspielen. Der Bolzplatz lag zwar an einer viel befahrenen Straße, zentral im Viertel. Durch die Bebäumung rundherum war er jedoch von Außen, vor allem im Sommer, schlecht einsehbar – und damit ein idealer Ort, um erste Erfahrungen mit Gesetzesübertretungen zu machen: man trank Alkohol, rauchte Tabak und auch andere Substanzen. Dazu ließen sich in den toten Winkeln des Geländes ungestört erste intime Momente mit dem anderen Geschlecht erleben. 

 

Dass der Hacki eines dieser Refugien der Jugend war, die für Großstädte so typisch sind, begriff ich damals als 9-Jähriger natürlich nicht. Für mich war Fußballspielen die Hauptsache. Für viele etwas ältere Hacki-Besucher aber war es von der Haupt- zur Nebensache geworden: ein Vorhaben, das man beim Verlassen der Wohnung nannte, um die fragenden Eltern zu beruhigen – und trotzdem noch das unkomplizierte und facettenreiche Spiel, das es für sie in früheren Jahren gewesen war. 

 

Natürlich gab und gibt es Zufluchtsstätten wie den Hacki auch in Kleinstädten oder Dörfern – der Unterschied zur Großstadt ist jedoch: es geht auf den Bolzplätzen in München, Berlin, Hamburg oder Köln diverser und anonymer zu. Die Gesellschaft einer prosperierenden Metropole ist durch den stetigen Zuzug aus dem In- und Ausland ökonomisch, kulturell und sozial heterogener; in Stadtvierteln wie Berg am Laim merkt man das besonders. Dazu bewirkt die Anonymität der Großstadt, dass das auf dem Dorf so wirkungsvolle Prinzip der sozialen Kontrolle nicht mehr richtig funktioniert: Über die Menschen, denen man auf dem Dorf-Hacki begegnet, über deren Hintergründe und Familienverhältnisse, weiß man für gewöhnlich nämlich sehr genau Bescheid – schlichtweg weil die Dorfgemeinschaft überschaubar groß ist und die eigenen Eltern oft mit den Eltern der anderen bekannt sind. Beobachtet man also eines Tages das kriminelle oder „normabweichende“ Verhalten eines anderen und berichtet beim Abendessen der eigenen Mutter davon, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass diese, ob über den „Talk of the Town“ oder direkt, die Neuigkeit bald an die Eltern des vermeintlichen Abweichlers weiterträgt – woraufhin dieser bestraft wird. Das Prinzip der sozialen Kontrolle wirkt. Wenn ich damals meiner Mutter erzählt hätte, dass einer meiner zeitweiligen Hacki-Mitspieler, von dem ich zwar den Spitznamen, aber weder das genaue Alter noch die Wohnanschrift kenne, betrunken mit mir Fußball gespielt hat, dann hätte das keine Sanktionierung eines anderen zur Folge gehabt – sondern nur das Verbot weiterer Hacki-Besuche für mich.

 

Die urbanen Bolzplätze dieses Landes sind also für die Jugend nicht nur Orte des Fußballspielens, sondern auch des Experimentierens, des Grenzenaustestens, alles im Schutz der Großstadtanonymität. Auf und neben diesen Spielfeldern sind so multikulturelle Jugendsubkulturen entstanden – das hatte auch die Industrie irgendwann bemerkt: Puma hat mit seinen Streetsoccer-Cups Mitte der 1990er Jahre genau auf diese Subkulturen abgezielt. Der Streetsoccer wurde als Inbegriff des „Urban Sports“ inszeniert – und damit als eine Art Gegenpol zum angestaubten und durchreglementierten Vereinsfußball, auf dessen Spielstätten man sich zudem nicht ohne weiteres der Kontrolle Erwachsener (Trainer, Platzwarte, Eltern) entziehen konnte.

 

Viele deutsche Weltmeister von 2014 sind inmitten oder im Umfeld dieser Bolzplatz-Subkulturen sozialisiert worden: Der Berliner Jerome Boateng, der Gelsenkirchener Mesut Özil, aber auch der im Münchner Stadtteil Gern aufgewachsene Philipp Lahm haben auf solchen Plätzen Fußball gespielt – und vielleicht nebenbei auch Grenzen ausgetestet oder zumindest andere dabei beobachtet. Vielleicht waren es auch diese Erfahrungen, die sie zu den Spielern gemacht haben, die dann bei den Weltmeisterschaften 2010 und 2014 die ganze Welt mit unkonventionellem und so untypisch deutschem Fußball begeisterten. 

 

Wenn nach der Jahrtausendwende in Großstädten übrigens neue Bolzplätze angelegt wurden, dann eigentlich nur noch eingezäunt: In oft mit Kunststoffbelag ausgelegten „Fußballkäfigen“ sollten die im Ausbildungskonzept des DFB so hochgeschätzten, technisch-feinen und kreativen Straßenfußballer produziert werden. Wie aktuell vielerorts beklagt wird, gelingt das immer weniger – liegt es am weicheren Belag? Am Käfig? 

 

Auf dem Hacki spielt man jedenfalls auch heute noch auf Asphalt und uneingezäunt – wobei, in den letzten Wochen war der Platz zeitweise durch ein weiß-rotes Plastikband abgesperrt. 

 

2. Talentejagd im Großstadtdschungel 

 

Bald schon wechselte ich aus mir nicht mehr erinnerbaren Gründen vom Asphaltplatz- zum Rasenfußball, vom unbeaufsichtigten zum beaufsichtigten Fußball: Mit elf Jahren wurde ich Mitglied in der Fußballabteilung des ESV München Ost, einem recht erfolglosen, aber authentischen Verein, der ursprünglich für die in den 1920er und 1930er Jahren in Berg am Laim angesiedelten Beschäftigten der Eisenbahn gegründet worden war. Ich gewöhnte mich schnell an das weichere Geläuf und die andere Spielweise und lieferte eine gute erste Saison ab. Eines Tages klingelte dann zuhause das Telefon und der Trainer der D2 der SpVgg Unterhaching, damals wie heute dritte Kraft in München und Umgebung, war am Apparat. Ich hatte erst kürzlich gegen seine Mannschaft gespielt und trotz unserer haushohen Unterlegenheit eine ordentliche Partie gemacht. Er wolle mich in seiner Mannschaft haben, sprach er mir verheißungsvoll ins Ohr. Ich war überwältigt. Meine Eltern, die von Fußball nicht wirklich viel Ahnung hatten, aber natürlich begriffen, dass ein solcher Anruf eine Auszeichnung ist, waren sehr stolz auf ihren Sohn und gaben bald ihr Einverständnis für den Wechsel.

 

„Das Abwerben talentierter Spieler schon im Kindes- und frühen Jugendalter gab es in München schon immer. Aber in der jüngeren Vergangenheit hat sich diese Unsitte leider immer stärker ausgebreitet“, sagt Michael Franke, 1. Vorsitzender der FT Gern München, Philipp Lahms Heimatklub. Seit Jahren werden auch von seinem Verein Talente schon in ganz jungen Jahren losgeeist, oft hinter dem Rücken. In einer Großstadt, in der häufig mehrere Profivereine ansässig sind, wird der Kampf um Talente eben nochmal erbitterter geführt – man möchte schließlich kein hoffnungsvolles Talent an den Lokalrivalen verlieren, wo es dann womöglich eine ganze Ära prägt (Manch ein Münchner behauptet ja, wäre das Giesinger Gewächs Franz Beckenbauer damals in der Jugend zu den Löwen gewechselt, dann wäre jetzt der TSV 1860 deutscher Rekordmeister. Wegen einer „Watschn“, die ihm ein Gegenspieler bei einem Duell seines SC 1906 mit einem Jugendteam der Löwen erteilte, entschied sich Beckenbauer allerdings 1958 für einen Wechsel zum FC Bayern). 

 

Michael Franke nennt noch einen weiteren Grund, warum die Talentsichtung und -abwerbung in der Großstadt besser funktioniert als auf dem Land: „In einer Großstadt haben Scouts kürzere Wege und können am Wochenende problemlos ein Dutzend Jugendspiele anschauen. Und die Eltern des umworbenen Talents stimmen einem Wechsel dann womöglich auch schneller zu: die Strecke zum neuen Verein ist in einer Stadt ja ebenfalls meist nicht weit und kann mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden.“ 

 

Auch ich fuhr damals immer wieder mit der S-Bahn zum Training in den Vorort Unterhaching. Ich blieb zwei Jahre bei der Spielvereinigung, fußballerisch waren es sicherlich die lehrreichsten und schönsten in meinem Leben. Aber letztlich kam ich mit dem Leistungsdruck nicht zurecht, wurde aussortiert und wechselte zu einem unterklassigen Verein, bei dem damals Freunde von mir kickten. Dort spiele ich heute noch. 

 

„Durch die frühen Vereinswechsel werden Kinder häufig aus gewohnten sozialen Umgebungen herausgerissen, verlieren Freunde und vertraute Menschen aus den Augen“, schildert Michael Franke die negativen Effekte der Talentejagd. Als Vereinsvorsitzender und Kopf der Münchner Interessengemeinschaft „Sport wichtig machen“ setzt er sich daher seit Jahren dafür ein, dass die Münchner Großvereine auf diesem Gebiet zurückhaltender agieren – mit Erfolg: Der FC Bayern hat kürzlich bekannt gegeben, seine U9 und U10 zur neuen Saison aus dem Spielbetrieb zu nehmen, womit es in diesen Alterskategorien auch keine Abwerbeversuche durch den Stadtprimus mehr geben wird. „Ein Anfang“, sagt Michael Franke.

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3. Großstadtvereine als Lernorte der Demokratie – aber nicht für alle?

 

Nach meinem Wechsel in den unterklassigen Fußball musste ich meinen zeitweise sicherlich gehegten Traum vom Profisport schon mit im Alter von 15 begraben. Aber dafür hatte ich die Freude am Fußballspielen zurück – und ich fand das wieder, was mir schon zu Hacki-Zeiten so gut gefallen hatte und was mir bis heute am Amateurfußball so imponiert: man treibt mit ganz unterschiedlichen Menschen Sport, tauscht sich aus, baut Beziehungen auf. Wie schon eingangs erwähnt, ist die Stadtgesellschaft deutlich heterogener als die Dorfgesellschaft – und der Fußball ist nun mal die populärste Sportart weltweit und besitzt enorme Anziehungskraft für viele urbane Bevölkerungsgruppen. Gerade die nicht-leistungsorientierten Vereine in einer Großstadt, in denen Geselligkeit einen hohen Stellenwert hat, sind deshalb wichtige Orte der Begegnung und der Integration. 

 

„Die soziale Funktion von Fußballvereinen in unserer Stadt kann nicht hoch genug eingeschätzt werden“, sagt auch Gerd Thomas, 1. Vorsitzender des FC Internationale Berlin und ausgewiesener Kenner des Hauptstadtfußballs. „In den Vereinen werden Werte vermittelt und so leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Integration – und damit meine ich nicht nur die Integration von beispielsweise Geflüchteten: Menschen unterschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft lernen sich kennen und entwickeln Verständnis für die Einstellungen und Ansichten des anderen“, so Thomas. Ein Fußballverein ist damit auch ein Lernort für die Demokratie.

 

Dieser Lernort können viele Großstadt-Fußballvereine aber nicht mehr für alle sein: „Aufnahmestopp für Kinder in Hamburger Fußball-Vereinen“, „Freiburger Fußball-Vereine müssen viele Kinder abweisen“ – in den letzten Monaten konnte man immer wieder Schlagzeilen wie diese lesen. Auch der Berliner Gerd Thomas weiß von solchen Fällen zu berichten – und er kennt die Ursachen: „Viele Fußballanlagen stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen, es gibt einfach nicht ausreichend Flächen für die vielen Kinder und Jugendlichen. Und wenn doch Platz da ist, dann fehlen häufig die Trainer. Man findet immer weniger Leute, die sich diesen zeitaufwendigen Job antun möchten.“ 

 

Auch das ist übrigens typisch Großstadtfußball, denn in vielen ländlichen Regionen in Deutschland verhält es sich genau andersherum: Dort sind die Sportanlagen bei weitem nicht ausgelastet und es gibt ausreichend Trainer – einzig, es fehlen die Kinder, die Fußball spielen wollen. Die Konsequenz ist eine steigende Zahl an Spielgemeinschaften, bei denen sich drei oder gar mehr Dorfvereine zusammenschließen, um den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten.       

 

4. Großstadtphänomen Migrantenvereine 

 

Vielfalt ist für den Großstadtfußball kennzeichnend, auch in der Vereinslandschaft. „NK Hajduk 1970 München“, „SV Polonia München“, „FC Niksar Spor München“ – während mir diese Vereine im Jugendfußball kaum begegneten, weil sie oftmals keine oder nur wenige Nachwuchsmannschaften unterhalten, gab es in meinen mehr als einem Dutzend Spielzeiten im Herrenbereich kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens ein Migrantenverein in unserer Liga spielte. Zahlreiche dieser „monoethnischen Fußballvereine“, wie der BFV sie bezeichnet, wurden von türkischen Einwanderern gegründet, schon in den 1970er- und 1980er-Jahren. Und ungefähr seit dieser Zeit gibt es in München und anderen deutschen Großstädten die Diskussion, ob diese Vereine zum Entstehen von Parallelgesellschaften beitragen – oder ob sie eine Bereicherung der Vereinslandschaft und zudem Orte sind, an denen Einwanderer Verantwortung übernehmen und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten entwickeln können.

 

Der Politikwissenschaftler Stefan Metzger hat in seiner Doktorarbeit mehrere türkischstämmige Fußballklubs in Berlin, von denen es in der Hauptsstadt aktuell rund 25 gibt, untersucht. Er sagt: „Kultur und Religion spielen in vielen Vereinen eine Rolle, teils mehr, teils weniger stark ausgeprägt.“ In Vereinen mit stärkerer Ausprägung kann das schon mal bedeuten, dass die Verbindung zur alten Heimat noch sehr stark ist: Da sitzt der türkische Botschafter schon mal regelmäßig als Zuschauer am Spielfeldrand. Doch trotz dieser Besinnung auf die Werte und Normen des Herkunftslandes, besitzen viele von türkischen Einwanderern gegründete Klubs eine lokale Identität: Sie fühlen sich meist ebenso als Berliner, Kreuzberger oder Neuköllner Vereine, wie Stefan Metzger in seinen Interviews herausgefunden hat. 

 

Auch der bekannteste Münchner Verein mit Türkeibezug, Türkgücü München, legt Wert auf seine lokale Verwurzelung: „Wir sind ein Münchner, ein bayerischer Verein“, sagte mir Robert Hettich, bis Anfang 2020 Türkgücü-Geschäftsführer, vor einigen Monaten im Interview. Der Verein hat sogar kürzlich die weiß-blauen bayerischen Rauten in das eigene Wappen aufgenommen; kaum ein Spieler im Regionalligateam hat einen türkischen Pass. 

 

Ich habe es in meinen bald 18 Jahren im organisierten Amateurfußball häufig erlebt, dass „monoethnische“ Mannschaften, gar nicht „monoethnisch“ zusammengesetzt waren: Da haben Rumänen für kroatischstämmige Teams gestürmt, Schwarzafrikaner bei türkischstämmigen das Tor gehütet und Mannschaften mit Griechenlandbezug einen deutschen Trainer gehabt. Die Realität des von Vielfalt geprägten Großstadtfußballs ist eben komplexer als es die Parallelgesellschaft-Mahner wahrhaben wollen. Am schönsten lässt sich diese Komplexität an einer Aussage meines ehemaliger Trainers Asmir, einem Bosnier, festmachen, die ich mir damals sofort notiert habe. In seiner Kabinenansprache vor einem Duell mit einem Team mit Türkeibezug sagte er: „Ich hoffe, dass der Schiedsrichter heute ein Deutscher ist. Weil deutsche Schiedsrichter pfeifen immer gegen Türken.“ Auf den Sitzplätzen neben mir lauschten seinen Worten zwei meiner türkischstämmigen Mitspieler. 

Dieser Text stammt aus Ausgabe #19

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