ZEITSPIEL Geschichte. Ausgabe #18


 

Fußball 1920 und 2020

Wie war das damals und was ist geblieben?

(Von Hardy Grüne)

2020 ist das Jahr der großen Jubiläen. Überall im Land erinnert man sich an die aufwühlenden Tage vor 100 Jahren, als vom Ersten Weltkrieg gezeichnete und oft traumatisierte junge Männer beschlossen, etwas gegen ihre Langeweile zu tun und Fußballvereine gründeten. Bis in die kleinste Landgemeinde drang der Fußballvirus damals und legte den Grundstein für das heutige Vereins- und Ligaspielnetz. Die Gründungswelle begann 1919, erreichte 1920 ihren Höhepunkt und ebbte bis 1922 allmählich aus. Danach war Fußball in Deutschland nicht mehr nur ein Spiel der Städte, sondern auch eines der Dörfer. 

1920 ist das Jahr, in dem der Fußball in Deutschland zum Volkssport wurde. 

100 Jahre später sind viele der Jubiläumsfeierlichkeiten, mit denen die mutigen Pioniere von damals geehrt werden, überschattet von Sorgen. Dem Fußball in der Fläche geht es bekanntlich nicht allzu gut. Vereinssterben, der dramatische Rückgang an Ehrenamtlichen, ein im Vergleich zu 1920 unvorstellbar vielfältigeres Freizeitangebot sowie die Entvölkerung des ländlichen Raums haben Spuren hinterlassen. Von vielen Jubilaren hörte man, dass das 100. Jubiläum noch gefeiert werden soll, perspektivisch eine Fusion mit einem Nachbarklub aber unumgänglich sein wird. Zahlreiche Klubs, die vor 100 Jahren voller Euphorie und Schwung die Fußballwelt eroberten, haben bereits aufgegeben. Im südniedersächsischen Eichsfeld beispielsweise, direkt vor meiner Haustüre, sind drei regional ruhmreiche Klubs schon vor Jahren zu einer Spielgemeinschaft zusammengegangen. Zwei von ihnen entstanden 1920 als reine Fußballvereine, der dritte war ein Turnverein, der 1920 eine Fußballabteilung erhielt. 1920 war das Jahr, in dem die heutige SG Bergdörfer ihre drei Fußballwurzeln erhielt. 

Wenig ist überliefert von der Gründergeneration, außer, dass es überwiegend junge Männer waren, die den Ersten Weltkrieg in den Schützengräben verbracht hatten und über ihre dort gemachten Erfahrungen nicht gerne redeten. Bisweilen waren es in sich gekehrte, leicht grimmige oder verschrobene Menschen, gebrochen von dem Leid, das sie im Krieg erfahren hatten bzw. mit hatten ansehen müssen. Fußball gab ihnen Freude, Leichtigkeit, Kameradschaft und ein Ventil für jenen Drang nach Kräftemessen, der ihnen im Krieg eingetrichtert worden war. Viele von ihnen hatten nie gelernt, ihre Emotionen friedlich in den Griff zu bekommen. Insofern war Fußball ein Kriegsprofiteur, und auf den Fußballfeldern anno 1920 ging es durchaus wild her. Wenn die Alten vor Ort über alte Derbys zwischen Arminia Fuhrbach und dem FC Brochthausen, zwei der drei Gründervereine der SG Bergdörfer, erzählen, klingt das, als würden heutige Fußballfunktionäre umgehend das ganz große Maßnahmenpaket aufschnüren und als würde 2020 vermutlich keine einzige Partie regulär beendet werden, weil es ständig zu Beleidigungen, Unsportlichkeiten und keineswegs nur verbaler Schiedsrichterschelte durch das Publikum kam. Nein, Fußball 1920 war kein Ponyhof. 

Die Alten erzählen aber auch von großer Kameradschaft zwischen den Spielern aller Teams und rauschenden Festen unter den Vereinen. Dass man sich dazu gegenseitig besuchte und dass die Folgen dieser Feste bis heute in allen drei Dorfchroniken zu erkennen sind. Denn so manch Langenhäger (Langenhagen ist der dritte Ort im Bergdörfer-Bunde) hat einen Elternteil in Brochthausen oder Fuhrbach oder andersherum. Fußball war auch Kontaktbörse, zumal im ländlichen Raum. 

100 Jahre danach ist Fußball domestiziert. Er wurde von einem zentralen Bestandteil des Alltagslebens, an dem man vor allem aktiv partizipierte, zu einer gewaltigen Eventmaschine, die man bevorzugt mit Chips und Bier auf dem heimischen Sofa goutiert. Fußball ist so populär wie nie zuvor, doch Arminia Fuhrbach, der FC Brochthausen und der VfR Langenhagen sind schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, eigenständig zu arbeiten. Wo früher jeder Verein auch noch eine zweite Herren, bisweilen sogar dritte Herren hatte und die meisten Nachwuchsjahrgänge besetzen konnte, braucht es inzwischen Auswärtige, um die Erste zu bestücken, werden die fußballaffinen Kids ständig im Elterntaxi umherkutschiert, um sie in einem der drei Orte zum gemeinsamen Training zu versammeln. 
Fußball steckt 100 Jahre nach seinem Durchbruch zum Volkssport mitten im Leben und ist doch klammheimlich dabei, aus dem Zentrum des Alltags zu verschwinden. Was sich vor 100 Jahren geradezu explosionsartig über das gesamte Land ausbreitete, hat sich inzwischen verdichtet, ist an seinem Kopf ein Milliardengeschäft geworden, während es an seinem Rumpf abstirbt. So hat der DFB in den letzten zehn Jahren mehr als 18 Prozent seiner Nachwuchsmannschaften eingebüßt – neun Prozent seiner jugendlichen Mitglieder! 
Wie war das damals und was ist geblieben von 1920 - dem wollen wir im Leitartikel „1920 – als der Fußball Volkssport wurde“ nachspüren. Anlass ist nicht nur das Jubiläum, denn die gegenwärtige politische und wirtschaftliche Stimmung im Land wird von vielen Historikern ja gerne mit den 1920er Jahren und der Weimarer Republik verglichen: Eine verunsicherte Bevölkerung, eine zersplitterte Parteienlandschaft, erregte Diskussionen um die politischen Flügel rechts wie links. Ein Volk, für das ausgelassenes und innovatives Vergnügen wichtiger ist als das duckmäuserische Untertanentum der Kaiserzeit bzw. das biedere „Leistung lohnt sich wieder“ der Kohl-Ära. Ein schöner Vergleich, der freilich keiner eingehenden Untersuchung standhält, denn 1920 und 2020 sind dann doch zwei sehr unterschiedliche Zeiten und Welten. 

Anregungen zum Hinschauen auch in der Gegenwart aber gibt es! 1920 beispielsweise wurde im Sport engagiert und bisweilen polemisch über den damals aufstrebenden Fußball innerhalb der sozialdemokratischen Arbeitersportbewegung diskutiert. Von vielen Seiten, selbst gemäßigten und weltoffenen wie „Kicker“-Gründer Walther Bensemann, wurde das Gespenst des Sozialismus und eines drohenden Übergreifens der russischen Revolution an die Wand geworfen. Und die Politik ermahnt, die „Auswüchse“ zu zähmen. Dass im selben Jahr rechtsgerichtete paramilitärische Freikorps über den Fußball um Mitglieder warben und marodierend durch die Städte zogen und politische Morde begingen, fand weniger Einfluss in die Diskussionen vor allem im bürgerlichen Lager der Mitte. Diese Blindheit auf dem rechten Auge führte 1933 in die Tragödie des „Dritten Reiches“ (zu dessen ersten Opfern die Arbeitersportler gehörten). Und dass der bürgerliche Fußball – also der DFB – nach 1945 großen Wert darauf legte, von nichts etwas geahnt und es schon gar nicht gewollt zu haben, ist auch so ein bisschen konstruiert, wie auf den folgenden Seiten zu sehen ist.

1920. Das Jahr, das den Fußball veränderte

(Von Hardy Grüne)



1920: Das Jahr, das den Fußball veränderte
Als Schiedsrichter Dr. Peco Bauwens die beiden Teams aufs Spielfeld führt, kommt er aus dem Staunen kaum heraus. Schwarz vor Menschen sind die Ränge um das Fußballfeld auf den Sandhöfer Wiesen in Frankfurt. Es ist eine in Deutschland nie zuvor erlebte Kulisse, die am 13. Juni 1920 das Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft zwischen dem 1. FC Nürnberg und der Spielvereinigung Fürth sehen will. Von 35.000 werden die Berichterstatter später sprechen – einige glauben gar, 40.000 auf den Rängen ausgemacht zu haben. Das sind mehr als doppelt so viele wie bei der bisherigen Rekordkulisse von 17.000, aufgestellt im März 1913 beim Länderspiel gegen England in Berlin. Erstmals hat die Reichsbahn für ein Fußballspiel Sonderzüge eingesetzt, und auch die Finalisten, deren Fußballplätze im Fränkischen nur ein paar Kilometer voneinander entfernt liegen, haben einige Tausend Anhänger ins 220 Kilometer entfernte Frankfurt mitgebracht. Allein aus Nürnberg sind mehr als 3.000 zeitgenössisch „Schlachtenbummler“ genannte Anhänger angereist. Per Bahn für zehn Mark, auf offenen Lastwagen für fünf Mark oder per fünftägigem Fußmarsch kostenlos. Über 25.000 Karten gingen bereits im Vorverkauf über die Ladentheken, und auf dem Schwarzmarkt wurden bis zu 200 Mark für einen Sitzplatz geboten.

In der Menschenmenge herrscht aufgeräumte Stimmung, und, wie die „Mittelrheinische Sportzeitung“ beobachtet, hat „jeder seine Frühstückstasche in der Hand, es wird gefuttert, getrunken und eifrig debattiert“. Als Bauwens die Teams am Mittelkreis aufstellen lässt, brandet Beifall auf. Auf der einen Seite der Club. Ein Kollektiv bulliger Kerle, angeführt vom hochaufgeschossenen Hans Kalb und in seiner kaltschnäuzig-derben Spielweise verkörpert durch den vergleichsweise kleinen Heinrich „Heiner“ Träg, der mit seinem untersetzten Körper, dem entschlossenen Gesichtsausdruck und der martialischen Frisur konzentrierte Kampfbereitschaft darstellt. Daneben die Mannen der Kleeblätter. Sie wirken leicht wie Federn. In Fürth interpretiert man Fußball als Eleganzspiel, bei dem der Ball rollen muss. Der englische Trainer William Townley hat am Ronhof den schottischen Stil eingeführt. Es sind die beiden besten Fußballmannschaften des Landes, die sich sechs Jahre nach dem letzten Endspiel erstmals wieder in einem Duell um die Deutsche Meisterschaft gegenüberstehen und ein neues Kapitel in der Geschichte des Fußballs in Deutschland aufschlagen.

Am 13. Juni 1920 wird Fußball endgültig zum Volkssport und Deutschland zur Fußballnation.

Georg Wellhöfer, rechter Außenverteidiger der SpVgg Fürth, ist der Einzige, der schon 1914 dabei war. Damals holten die Kleeblätter mit einem 3:2-Verlängerungssieg über den VfB Leipzig erstmals die „Viktoria“ nach Franken. Wir wissen nicht, was ihm nun, sechs Jahre später, durch den Kopf geht. Ob er sich an die kaum 6.000 Zuschauer und lediglich 100 mitgereisten Fürther erinnert, die 1914 beim Finale in Magdeburg dabeigewesen waren? Oder denkt er an den Kaiser, der Deutschland in den Krieg führte und der nun im Exil in den Niederlanden lebt? Vermisst er die sittenstrenge Untertanenmentalität des wilhelminischen Kaiserreichs, die Heinrich Mann in „Der Untertan“ so wunderbar beschrieb? Oder geht ihm sein eigenes Schicksal durch den Kopf, das in den sechs Jahren zwischen den beiden Finalspielen geprägt war von Entbehrungen, politischen Unruhen und einem Krieg, der vier seiner Kameraden vom Endspiel 1914 das Leben kostete? 

1920 ist das Jahr, in dem alles anders wird. Auch und gerade im Fußball.

Pünktlich um 16 Uhr pfeift Schiedsrichter Bauwens, der später DFB-Präsident werden wird, das Spiel an. Fürth zelebriert Kombinationsfußball, der dem in der „riesigen Heringskiste“ („Fußball“) dichtgedrängten Publikum Rufe der Begeisterung entlockt. Nürnberg hält kraftvoll und rustikal dagegen. Die Clubberer spielen Fußball, wie man zwischen 1914 und 1918 auf dem sogenannten „Feld der Ehre“ gekämpft hat: mit offenem Visier, rigorosem Körpereinsatz und blitzgescheiter Entschlossenheit. Der „Fußball“ sieht sich und „die anwesenden Zuschauer unwillkürlich an das Fronterlebnis zurückdenken“. Am Ende steht ein nie gefährdeter 2:0-Sieg für den FCN und damit dessen erster Meistertitel. „Eine Menschenlawine ergießt sich zum Meister und jeder Mann der Nürnberger verlässt das Feld auf den Schultern der Landsleute durch das Menschenmeer. Hochaufragend über allen der Mann an der Kurbel, der aus sicherer Stellung die Sache filmt. Es hat nichts gefehlt an diesem Tage. Das Straßenleben, die Straßenbahn, der Wagenverkehr. Nach dem Spiel drängt alles nach Nürnberg. Nach Fürth - den Besiegten - fragt keiner!“, schreibt der „Reutlinger Generalanzeiger“. Durch das Blatt erfahren wir nebenbei, dass offenbar auch die junge Filmindustrie Interesse am Fußball gefunden hat.

Als die Siegerelf nach Nürnberg zurückkehrt, warten dort über 30.000 Fans. Eine unglaubliche Zahl. Alle gewohnten Dimensionen sind gesprengt, und es ist, als breite sich die Fußballbegeisterung wie nach einem Dammbruch über das ganze Land aus. „Als um 7:50 der Frankfurter Schnellzug in die Halle brauste und im vordersten Wagen die wohlbekannten Gestalten der Meisterelf sich zeigten, erfüllten schallende Hipp-Hipp-Hurra die weite Halle. Nur mit Mühe konnten sich unsere wackeren Kämpen durch die dichte Schar ihrer stürmischen Verehrer den Weg ins Freie bahnen“, schreibt die Nürnberger Lokalpresse.

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Dann jetzt unsere Ausgabe #18 ordern, in der wir ausführlich über das Jahr 1920 berichten, als der Fußball Volkssport wurde.

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