Runter vom Sofa und raus aus dem SUV
Gerd Thomas ist Vorstand beim FC Internationale Berlin und setzte sich engagiert für den Amateursport, Nachwuchsarbeit, Diversität. Ehrenamt- und Engagementförderung, Gesundheit sowie Prävention ein.
Wie schlecht ist die fußballerische Ausbildung in Deutschland? Folgt man vielen Experten, muss sie geradezu unterirdisch sein. Was völliger Quatsch ist. Wenn ich vergleiche, wie heute im Vergleich zu vor 10 oder 15 Jahren trainiert wird, muss ich feststellen, dass fast alles auf einem höheren Niveau ist. Dennoch lautet das Mantra nach dem Ausscheiden der Frauen bei der WM: „Wir müssen mehr ausbilden!“. Gleichzeitig sollten die Spieler:innen nicht zu früh aufs Gewinnen getrimmt werden. Was wir schon nach der letzten EM und WM bei den Männern hörten, wird nun nach dem Ausscheiden der Frauen wiederholt. Aber war nicht schon ausgemacht, dass die Frauen die Ehre des deutschen Fußballs retten würden, hatten sie nach dem überbewerteten 6:0 gegen Marokko den Titel nicht schon so gut wie in der Tasche? Nur fünf Tage später wurde alles in Frage gestellt. Und nachdem Alexandra Popp gegen Südkorea nur die Latte traf, gleichzeitig Marokko völlig unerwartet gegen Kolumbien gewann – der Treffer fiel im Nachschuss eines verschossenen Elfmeters – war Deutschland plötzlich raus.
Die Spieler:innen seien nicht hungrig genug, die Typen fehlten, die Ausbildung sei zu gleichförmig. Eben diese Ausbildung wurde aber 2014 nach dem glücklichen WM-Titel der Männer und 2022 nach der höchst unglücklichen Niederlage der Frauen in der Verlängerung gegen England als Beleg für deutsche Überlegenheit angeführt, was schon damals nicht in jedem Spiel stimmte. Es ist Fußball! Nicht immer gewinnt das bessere Team, manchmal entscheiden Unparteiische, das Aluminium oder eine um einen Zentimeter zu breit markierte Auslinie. Oder das Spiel kippt nach 80 dominierenden Minuten plötzlich in Richtung der anderen Mannschaft, siehe Argentinien gegen Frankreich 2022.
Bei den Männern wirkten 2021 immer noch Weltmeister wie Manuel Neuer, Thomas Müller, Mats Hummels oder Toni Kroos mit, zudem hat Deutschland Weltklassespieler wie Gündogan, Kimmich oder Havertz. Alles Spieler der Weltklasse, nur haben die anderen Teams eben auch viel davon, einige sogar mehr. Wobei der amtierende Europameister Italien die folgende WM verpasste, was sicher an der fehlenden Ausbildung liegt. Wobei der in Deutschland stets für alles Schlechte verantwortlich gemachte DFB ist in Italien nicht zuständig ist, das nur am Rande.
Vielleicht gibt es doch andere Gründe. Mir fällt bspw. die gähnende Langeweile in der Männer-Bundesliga ein. Der FC Bayern kann noch so schlecht spielen, für die Distanzierung von BVB oder RB reicht es noch immer. Wie soll in einem Land, in dem 11 x hintereinander derselbe Verein Meister wird, Euphorie aufkommen? Zuletzt reichten sogar nur 71 von 102 möglichen Punkten! Ein heutiger A-Jugendlicher hat eigentlich keinen anderen Meister bewusst wahrgenommen. Die deutsche Bundesliga ist einfach nur öde. Bei aller Wertschätzung für den großartigen Frank Schmidt und Torsten Lieberknecht, aber ob das mit Heidenheim oder Darmstadt besser wird?
In Berlin sieht man auf den Amateur- und Bolzplätzen nur wenige Kinder mit dem Trikot von Hertha und Union. Barcelona ist immer noch präsent, zunehmend kommen auch ManCity und tatsächlich PSG ins Spiel, wie immer wir das finden. Junge Menschen können mit unseren Traditionsclubs immer weniger anfangen. Warum sollen sie Hannover 96, Nürnberg, den HSV oder Kaiserslautern zu ihrem Lieblingsverein wählen? Es ist gar nicht so einfach, sich in Deutschland aus sportlicher Überzeugung einen Favoriten zu wählen, wenn man kein Bayern-Fan sein will. Freiburg und Union mögen für viele attraktiver und innovativer sein, aber die Strahlkraft ist dann doch nicht groß genug, von RB ganz zu schweigen.
Gleichwohl dürfen wir die Verbände nicht aus der Verantwortung entlassen. In den letzten Jahren ist tatsächlich eine gewisse Uniformität festzustellen. Der den großen Stars Kroos, Özil, Lahm und Klose nachfolgenden Generation scheint es manchmal an Mut, Individualität und Leidenschaft zu fehlen. Damit könnten nicht zuletzt die Nachwuchsleistungszentren der DFL-Vereine zu tun haben, die alle dieselbe Zertifizierung durchlaufen müssen. Viele Defizite wurden bereits benannt, einigen Experten schwant schon jetzt, dass die überteuerte DFB-Akademie sportlich vielleicht auch nicht die beste Entscheidung gewesen sein könnte. Anstatt alles gleichzuschalten, wäre ein Land mit mehr als 2 Millionen Juniorinnen und Junioren besser beraten, viele verschiedene Dinge zu probieren. Denn in der Konsequenz heißt es: Scheitert die Idee der Verbandsspitze um Joti Chatzialexiou, scheitern wir alle. Natürlich gibt es einen internationalen Austausch mit anderen mehr oder weniger erfolgreichen Ländern, die Erkenntnisse sind inzwischen international. Doch am Ende gewinnt bei uns die Uniformität, wie wir gerade bei der in meinen Augen nicht sehr gelungenen Trainerreform sehen.
Warum sollen wir in unseren Amateurvereinen eigentlich den Schwerpunkt auf diese Ausbildung legen? Die Chance, dass selbst bei bester Förderung ein:e Spieler:in zum Nationalteam stößt, ist gleich Null. Dieses Argument fällt für die Basis also aus, zumal die großen Talente früh entdeckt und von NLZs abgeworben werden. Dass die Profivereine dabei nicht zuletzt monetäre Dinge im Kopf haben, liegt auf der Hand. Immerhin hat der viel gescholtene DFB nun eine Reform auf den Weg gebracht, dass Amateurvereine auf jeden Fall von einem Wechsel der Hochbegabten ins NLZ profitieren, nicht erst, wenn die Akteure im Profifußball ankommen. Eine gute Sache für die Basis, die interessanterweise nirgendwo erwähnt wird.
Ist es wirklich sinnvoll, dass bspw. die mehr als 30 Jugendteams des FC Internationale alle nach dem gleichen Muster trainiert werden, die Individualität der Coaches und Spieler:innen also systematisch getilgt wird? Im TV wird immer wieder betont wird, es bräuchte mehr ausgebildete Trainer:innen. Es spricht nichts gegen Lizenzen, aber man wird das Gefühl nicht los, in der deutschen Trainerausbildung würde einiges fehlen. Zum Beispiel Persönlichkeitsentwicklung. Tabea Kemme monierte jüngst den fehlenden kritischen Geist und die Angst, auch mal den Mund aufzumachen, Missstände zu benennen. Das mag mancher wohlfeil finden, aber ich kann ihren Äußerungen durchaus etwas abgewinnen. Fußballdeutschland wirkt in der Tat angepasst, gleichgeschaltet und wenig innovativ. Vielleicht hat man hierzulande Guardiola auch einfach falsch verstanden. Die Mutlosigkeit, die sich seit einigen Jahren auch in anderen Bereichen des Landes zeigt, finden wir auch im Fußball. In den Verbänden, in den Vereinen, in der Sportpolitik. Die Lustlosigkeit, mit der in Berliner Bezirken Sportpolitik betrieben wird, ist gefürchtet, gleichwohl zucken selbst im ach so frechen Berlin fast alle nur mit den Schultern: „Kannste nüscht machen!“.
Wenn unsere Trainer im Berliner Amateurfußball auf dem Platz stehen, denken sie nicht daran, wie sie im Sinne des deutschen Fußballs am besten ausbilden. Auch wenn bei uns anders als bei den Helmers, Hamanns und Rangnicks die Reform des Kinderfußballs nachvollzogen werden kann, geht es doch darum, nach dem Spiel mit einem guten Gefühl nach Hause zu gehen. Das bekommt man nach Siegen oder dann, wenn eine Mannschaft zwar nicht gewinnen konnte, aber einen super Teamspirit hatte. Nur sehr selten höre ich: „Wir haben zwar verloren, aber ich finde, unsere Spieler sind super ausgebildet!“. Sollte doch ein Trainer eine unnötige Niederlage mit der Ausbildung begründen, werde ich skeptisch. Was tatsächlich nahezu alle umtreibt, sind die katastrophalen Bedingungen, unter denen wir unseren Sport ausüben sollen. Ein neuer Platz, bei dem die Kabinen vergessen wurden. Seit fast einem Jahr kaputtes Flutlicht. Kaltes Wasser in den Duschen. Viel zu wenige Plätze und jede Menge von einer oft willkürlichen Verwaltung aufgebaute Hürden. Es gibt so viele Ideen im Verein, die meisten scheitern leider an der Dysfunktionalität der Hauptstadt.
Die Probleme in der Metropole sind andere als im ländlichen Raum. Dort gibt es meist genügend Platz, aber oft fehlt es an genügend Spielern, um eine A- oder B-Jugend aufzubauen. Notwendige Spielgemeinschaften sind meist keine Liebesbeziehungen. Beim Mädchenfußball kommt man auf dem Dorf fast nirgendwo ohne aus. In Berlin gibt es zur neuen Saison nicht einmal mehr Verbandsligen. Darüber muss dringend eine Diskussion her. Ich bin gespannt, was der DFB-Amateurkongress Ende September dazu ausbrütet, denn da ist der Mädchenfußball neben dem Spielbetrieb und dem Schiedsrichterwesen einer der drei Tagesordnungspunkte.
Nicht auf der Agenda steht komischerweise der wichtigste Punkt: Wie garantieren wir auch künftig funktionierende Vereine mit einer ambitionierten Jugendarbeit? Nahezu alle Umfragen zeigen, das Hauptproblem liegt in der Gewinnung und der Stabilisierung von Ehrenamtlichen. Doch das will scheinbar niemand diskutieren. Ich würde weiter gehen wollen. Wie schaffen wir es, dem Fußball, aber auch dem Sport an sich an sich mehr Bedeutung zukommen zu lassen? Was müssen wir tun, dass der Sport als wesentlicher Bestandteil der Stadt- und Zivilgesellschaft wahrgenommen wird? Wie können Teilhabe und Förderung aller Schichten und Milieus wirklich gelingen? Vielleicht krankt der Fußball auch daran, dass die Deutungshoheit kaum heterogen ist. Benachteiligte Kinder und Jugendliche aus armen und so genannten bildungsfernen Familien haben in der Gesellschaft keinerlei Lobby. Ist das beim Fußball anders?
Wie kann ein Junge oder ein Mädchen aus einem wirtschaftlich schwachen Haushalt in einem NLZ oder gar in der Bundesliga ankommen? In unserem Land im Prinzip gar nicht. Ich habe vor einigen Wochen geschrieben, gelebte Vielfalt wäre ein Wettbewerbsvorteil. Dazu stehe ich nach wie vor. Aber ich weiß auch, wie schwer es ist, Vielfalt wirklich zu fördern und sicherzustellen, denn diese hat nicht nur mit Nationalität und Geschlecht zu tun. Auch die Mischung der verschiedenen Milieus, Kulturen und der Umgang mit Armut im Verein sind ein wesentlicher Faktor. Der immerhin bei Real Madrid spielende Antonio Rüdiger vermisst die Gier, meint gar, es ginge bei der Nationalmannschaft zu wenig dreckig zu. Unabhängig davon, ob er ein großer Fußball-Philosoph ist, aber etwas mehr Authenzität und Unangepasstheit könnten helfen. Wobei zur Wahrheit auch gehört, dass wir keinen Messi, Haaland, Mbappe oder Vinicius Junior in Deutschland haben. Spieler wie Kimmich, Gnabry, Sane oder Brandt stellen international eben keinen Unterschied her. Bei den Frauen deutet sich bei einem Abgang von Alexandra Popp ein ähnlicher Missstand an.
Es ist schwierig, Analogien zwischen Fußball und politischer Lage eines Landes herzustellen, ich begebe mich da durchaus auf Glatteis. Aber es gelingt uns einfach nicht (mehr), Begeisterung zu entfachen. Nun gilt das auch für demokratische Politiker in Frankreich, England oder gar Italien, keine Frage. Doch unserem Land geht es weit besser. Es gibt (noch) keine sozialen Unruhen, die Zahl der Millionäre steigt unerlässlich, wir haben seit mehr als 75 Jahren Frieden und reisen inzwischen wie verrückt in andere Länder, was natürlich besser ist, als diese zu überfallen. Die Demokratie ist noch in einem funktionierenden Zustand, selbst die Pandemie haben wir weitgehend gut überstanden. Das alles wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die da oben sollen vor allem zusehen, dass sich die Bedingungen nicht verschlechtern. Dabei rückt immer mehr in den Hintergrund, dass zu einem funktionierenden Gemeinwesen auch das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern jenseits von Netflix-Konsum, Malle-Urlaub und Parkplatzssuche für den SUV gehört.
Auch in den Sportvereinen greift zunehmend eine Haltung um sich, die man wohl am ehesten als Dienstleistungsmentalität beschreiben kann. Der schlecht bezahlte oder gar ganz ehrenamtliche Trainer muss natürlich dreimal die Woche pünktlich da sein, darf nicht krank werden, soll für beste Ausbildung der Spieler sorgen. Der Vorstand soll für ordentliche Sportplätze, gutes Catering, reibungslosen Spiel- und Trainingsbetrieb inkl. bester Ausstattung sorgen. Gleichzeitig müssen die Mitgliedsbeiträge natürlich niedrig gehalten werden. Die Kritik, den Profis würde alles vorgesetzt, sie müssten kaum noch Eigeninitiative ergreifen, kann man auf Eltern oder Mitglieder eines Vereins gleichsetzen. Selbst auf dem Dorf klagen Vereine, sie fänden kaum noch Vorstände. Zu den Vereinsfesten würden sich immer dieselben engagieren, die aber langsam auch müde seien.
Vielleicht müssen wir genau hier ansetzen und sehen, wie wir die Leute vom Sofa oder aus dem SUV rauskriegen. Wieder mehr Solidarität und Gemeinschaftssinn einfordern, gemeinsam Konzepte erarbeiten, an deren Ende mehr Zusammenhalt und Engagement steht. Und vielleicht sollten die Verbände hier überlegen, was ihr Beitrag dazu sein könnte, am besten die Profivereine gleich mit ins Boot nehmen. Ich habe den DFB vor einigen Jahren mal als Raumschiff bezeichnet, gleiches könnte man für NLZs und die meisten Profivereine auch sagen. Wir müssen aber zusammenrücken, denn die Zeiten sind nicht nur sportlich kompliziert. Allein die auf die Vereine zukommenden Herausforderungen durch die Klimaveränderungen und den demografischen Wandel werden viel Kraft benötigen, ebenso wie der Arbeitskräftemangel und daraus resultierend der Verlust von Ehrenamtlichen. Wir wissen um die Entwicklungen, also sollten wir auch entsprechend handeln. Warum sollte nicht ausgerechnet der Fußball die Institution sein, die das Land eint und diesem wieder ein Gefühl von Zusammengehörigkeit gibt? Die EURO2024 könnte so eine Gelegenheit sein. Wir sollten es probieren. Im besten Fall stehen am Ende neben mehr Solidarität und Freude auch wieder bessere internationale sportliche Erfolge.
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Der Pokal und seine Sensationen. In unserer Ausgabe #31 blicken wir zurück auf rund 90 Jahre Pokalsensationen im deutschen Fußball.