KLARTEXT
Gewalt im Fußball
Gerd Thomas
(5. Juni 2023)
Nach dem gewaltsamen Tod eines Berliner Jugendspielers bei einem Turnier in Frankfurt ist das allgemeine Entsetzen groß. Auch wenn die Lage immer noch unübersichtlich ist, lauten die meisten Reaktionen: „Schon wieder Gewalt beim Fußball.“ Ich halte mich mit der expliziten Bewertung des Falls zurück, glaube aber, den Fußball – im Speziellen den an der Amateurbasis – gut zu kennen. Zunächst fällt auf, dass der Druck im Kessel steigt. Trashtalk und Rüpeleien steigen, Zuverlässigkeit und Respekt sinken. Die Gründe sind vielfältig. Die Folgen der Pandemie spielen sicher eine Rolle, aber wir sollten es uns nicht zu leicht machen und alles auf die Unausgeglichenheit von jungen Menschen schieben. Auch das zwischenmenschliche Klima wird gerade nicht besser. Wie überall in der Gesellschaft, um die es schon mal besser stand, wie die alarmierenden Wahlprognosen verdeutlichen.
Zudem haben sich viele Dinge strukturell verändert und entwickeln sich in keine gute Richtung. Da ist vor allem die Überforderung des Ehrenamts. Selbst hartgesottene Vorstände fragen sich zunehmend, warum sie sich das noch antun.
Es fehlen Schiedsrichter, geeignete Trainer, Jugendleitungen, Schatzmeister und mehr. Immer mehr Eltern lassen die Loyalität gegenüber den Trainern ihrer Schützlinge vermissen, verlangen für kleine Mitgliedsbeiträge maximale Leistung des Vereins. Wer will sich das antun? Gleichzeitig führt der Profifußball den Menschen eine Welt vor, in der selbst Underperformer noch zu Millionären werden. Es tröstet nicht, dass dieses auch für manche Wirtschaftsführer oder Politiker gilt. Nicht wenige Eltern haben den Traum, ihr Sprössling könne später mit einer Profikarriere die gesamte Familie ernähren. Lottospielen ist erfolgversprechender, so viel kann ich versichern.
In der neuen DFB-Akademie wird vor allem über die Stärkung der Eliten nachgedacht. In erster Linie sollen Talente gefördert werden: Bei den Spielern, aber auch bei den Schiedsrichtern. Das führt dazu, dass in einer hohen Jugendspielklasse der Unparteiische oft der Jüngste auf dem Platz ist. Es wird nach dem Motto verfahren: Nur die Besten kommen an die Spitze. Und die anderen 99 %? Bei der Trainerausbildung sollen vor allem Ex-Profis für die hohen Lizenzen gepusht werden. Das ist eine Manifestierung der eigentlich optimierbaren Verhältnisse, Durchlässigkeit ist scheinbar nicht gewünscht. Gleichzeitig haben wir in vielen Regionen Vollbeschäftigung, was zu Überstunden führt und die Gewinnung von Ehrenamtlichen, gerade für die nicht so hoch spielenden Teams, schwerer macht.
So könnte man noch vieles anführen, z. B. den jämmerlichen Zustand von vielen Schulen und Sportstätten, die Unterbesetzung der Verwaltungen, die sich negativ auf Sportvereine auswirkt, oder die permanente Angst von Vorständen, für irgendetwas haftbar gemacht zu werden.
Was es braucht, ist eine ehrliche Diskussion, wo wir wirklich stehen, wie wir die Verhältnisse verbessern können und welche ungenutzten Potenziale der Sport hat. Die Debatte muss zwischen Vereinen, Verbänden und Politik laufen. Am besten wäre, die Wirtschaft käme gleich hinzu, denn die will schließlich gut funktionierende junge Leute, um dem Fachkräftemangel begegnen zu können.
Die viel zitierten Soft Skills wie Durchhaltevermögen, Teamgeist, Flexibilität oder Fairplay werden täglich auf Tausenden von Fußballplätzen vermittelt. Der Sport kann diesbezüglich vieles leisten, auch wenn nicht alles gelingt. Nur mit ehrenamtlichen Engagement - und dann noch unter prekären Bedingungen - kann das nicht geschehen, Gewaltprävention und pädagogische Höchstleistungen schon gar nicht. Wie sollen ausgerechnet die überlasteten Trainer und Vereinsvorstände das reparieren, was Schule und Elternhaus nicht mehr hinkriegen, während wir in unserem Land gleichzeitig kein Problem damit haben, teure Autobahnen oder Prestigeobjekte zu bauen?
DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat versprochen, einen erneuten DFB-Amateurkongress zu organisieren. Das muss schnell passieren, am besten mit einem starken Augenmerk auf den Jugendfußball und das solidarische Miteinander. Meine Frage wäre: "Wie kriegen wir eine strukturell nachhaltige Jugendarbeit hin?" Gern würde ich die Teilnahme von Fachleuten aus Prävention und Pädagogik sowie von Entscheidern, die über den reinen Sport hinauswirken, sehen. Denn es braucht auch unbedingt finanzielle Mittel, nicht nur für den FCB oder den BVB. Wie heißt es so oft: „Was nichts kostet, ist nichts wert!“
Wir sind Gastgeber der EURO2024. Setzen wir ein Zeichen und nutzen diese völkerverbindende Veranstaltung, um darüber zu sprechen, wie ein gewaltfreier, solidarischer und attraktiver Fußball aussehen kann, und zwar bei jung und alt.
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