KLARTEXT
Die Ballermanisierung des Stadions
Bernd Sautter
(1. Mai 2023)
Die Kurve ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Schon gar nicht im Stadion. Seit die Leichtathletik raus ist, ist die Kurve gerade. Nur die Ecken sind noch abgerundet. Der Bedeutungsraum wird mit Fußballromantik gefüllt. Die Zustände haben sich auch übers Architektonische hinaus verändert. Auf allen Tribünen! Allen voran die Leute, die sich drauf tummeln. Darum muss es endlich damit aufhören, bei Fanausschreitungen und Gewalt reflexartig dorthin zu zeigen, wo einst eine Kurve war: zu Ultras und anders dekorierten Fans. Der Gedanke hinterm Reflex ist sowieso fragwürdig. Man kann die Leute nicht nach äußerlichen oder anderen unerheblichen Merkmalen in Gruppen einteilen. Nicht nach Hautfarbe oder sexueller Orientierung, nicht nach Geschlecht oder sozialer Herkunft. Und gleich gar nicht danach, von welcher Tribüne sie aufs Spielfeld schauen.
Kurve gleich Ultras gleich Problemzone. So lautet die allgemeine Simplifizierung, die dringend abgeschafft gehört. Sie wird zwar immer wieder von Vorfällen befeuert – und preisgünstig von ausgesuchten Bildern verstärkt. Jede Nachricht braucht eben ein Bild, so ist das halt im modernen Web-Journalismus. Kurven liefern seit jeher eindrucksvolles Archivmaterial. Farben, Choreo, Fackeln, Transparente – alles bildmächtig. Diese Fotos werden stets hergenommen, und zwar auch dann, wenn vom jüngsten Vorfall keine authentische Aufnahme vorhanden ist. So wird tagtäglich ein Klischee zementiert. Selbst wenn es nicht zutrifft. Also auch dann, wenn betuchte Tribünenfans auf der Heimreise eine Schlägerei anzetteln, die einen Polizeieinsatz fordert. Passiert in Freiburg. Was unter anderem beweist: Getrunken wird überall.
In diesen Tagen stellen Fanprojekte und Fanbeauftragte fest, dass immer mehr Alkohol im Spiel ist und zwar gleichmäßig verteilt über alle Regionen des Stadions. Becher und Getränke fliegen. Anstand und Manieren landen auf dem Boden. Die Zwickauer Bierattacke auf den Schiedsrichter ist nur ein Beispiel von vielen. Wenn auch ein eindrucksvolles. Dummheit und Alkohol – ein fataler Mix, abgestandener als Cola und Bier. Die gewöhnlichsten Krakeler (m/w/x) sitzen eben auch auf den feinen Tribünen. Zugegeben, eine gefühlte Wahrheit. Belastbare Erhebungen zu wüsten Beleidigungen fehlen. Ebenso wie Untersuchungen über Trinkgewohnheiten im Stadion. Fanbeauftrage orientieren sich an deutschlandweiten Studien.
Eine Erhebung der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) legt nahe, dass der Alkoholkonsum in ganz Deutschland zugenommen hat, nicht zuletzt während und nach Corona. Laut Statistischem Bundesamt liegen bei Klinikbehandlungen aufgrund Alkoholkonsum zwar die 15- bis 19-Jährigen an der Spitze (tendenziell eher Kurve). Doch die meisten Problemgruppen finden sich an anderer Stelle der Alterspyramide: in den Altersgruppen der 40- bis 60-Jährigen (eher Tribüne). Was die Statistik nachweist, lässt sich in deutschen Stadien beobachten. Die Kampftrinker sind in die Jahre gekommen. Sie verteilen sich über alle Blöcke. Die meisten Probleme sitzen. Ballermann-Mentalität macht sich breit.
Man wird doch wohl noch ein Bier trinken dürfen? Ja, klar. Aber dort, wo die älteren Leute besoffen die steilen Stadiontreppen hinunterpurzeln, alkoholenthemmt den Anstand gegen Minderheiten verlieren oder Anderen die Plörre über den Kopf leeren, ist – nüchtern betrachtet – Schluss mit lustig. Auf Deutschlands Fantribünen, wo Ultras und Fanclubs sind, kümmert man sich fürsorglich um angetrunkene Sportsfreunde. Die Gruppe hilft sich gegenseitig. Die Problemkinder auf Haupt- und Gegengerade trinken häufig alleine. Sie pöbeln und saufen unkontrolliert, weitab jeder Fan-Solidarität. Diese Herrschaften sind für die Fanprojekte und Sozialarbeit längst verloren. Besonders ungestört kann sich die destruktive Kraft auf der Sponsorentribüne entfalten. Dort, wo sich kein Vereinsordner getraut, mäßigend einzuschreiten. Zwickau – ein Einzelfall? Viele Vereinsvertreter, die in guten Vereinen ihre feinen Gäste hofieren, wissen es genau: Spielabbruch wegen Alkohol und Dummheit eines Einzelnen hätte an vielen Orten passieren können.
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