KLARTEXT

Das Märchen von Wrexham

Hardy Grüne

(26. April 2023)  


Wir müssen (mal wieder) über Geld reden. Geld will nicht nur alles kaufen können, sondern vor allem alles beanspruchen. "Wer die Band bezahlt bestimmt die Musik". Mit genügend Geld kann sich der spröde und pickelige Außenseiter zum Liebling auf dem Pausenhof machen.

Was auf dem Schulhof funktioniert, klappt umso mehr in der Welt der Großen. Nehmen wir ein Unternehmen mit Doppelnamen, dessen Kerngeschäft Versicherungen sind. Nicht arg so sexy, wenn man auf der Party reüssieren will. Um der Sache auf die Sprünge zu helfen, verknüpft diese Versicherungsgesellschaft ihren sperrigen Namen mit einem der emotionalsten Fußballorte Deutschlands. Und ist nun eingeschnappt, weil das Volk nicht brav Beifall klatscht, sondern, ganz im Sinne von „Des Kaisers neue Kleider“, lästert: „Der hat ja gar nichts an!“. Vermutlich hat man nun auch in der Konzernzentrale verstanden, dass Geld keine „echte Liebe“ kaufen kann, sondern allenfalls käufliche. Während die echte Liebe einfach weiter im Westfalenstadion ausgelebt wird.

Sehr gespannt sein darf man in diesem Zusammenhang auf das angekündigte Experiment von Fortuna Düsseldorf, allen Zuschauerinnen und Zuschauern bei ausgewählten Spielen freien Eintritt zu gewähren. Bezahlen sollen das die Sponsoren. Ich bin sehr neugierig, wie das in der Praxis aussehen wird. Und frage mich zugleich: Ist es wirklich der richtige Weg, Profifußball kostenfrei anzubieten? Gibt es da nicht ein paar andere Bereiche, in denen das Geld besser aufgehoben wäre? Für eine konkrete Meinung will ich mir zunächst aber noch ein bisschen Zeit nehmen und weitere Informationen sammeln.

Ortswechsel. Am Wochenende feierte der walisische Traditionsklub Wrexham AFC die Rückkehr in die Football League, aus der er vor 15 Jahren arg demoliert abgestiegen war. Damals verabschiedete sich die britische Fußballwelt recht emotionslos von einem Klub, der finanziell, administrativ und sportlich am Ende war. Das Stadion in Teilen baufällig, die Welt außerhalb von Nordwales desinteressiert an Verein und dessen Wohl. Im November 2020 kamen die beiden Hollywoodstars Ryan Reynolds und RobMcElhenny (wir berichten in unserer aktuellen Ausgabe #31 darüber) und kauften den maroden Klub, der zwischenzeitlich von den eigenen Fans vor dem drohenden Aus gerettet worden war, für schmales Geld und schmiedeten große Pläne.

Wrexham war eine dankbare Bühne für große Pläne. Der älteste Klubs Wales‘ (und viertälteste der Welt), eine Spielstätte voller Vergangenheit und eine fußballverrückte Region mit ganz eigenem Stolz und Selbstbewusstsein, der nicht zuletzt vom Fußballklub transportiert wird.

Wie beim Casting stülpten Reynolds und McElhenny dem Wrexham AFC anschließend ein romantisches Aschenputtelimage über, schaufelten Investitionen vor allem aus den Staaten heran und machten aus dem kleinen Regionalverein einen „Hollywoodklub“ mit Breitenwirkung. Profifußball ist eben mehr als Sport. Er ist Entertainment und Show, er lebt von Stars und verrückten Ideen. Zugleich vereinbarte man mit dem Wrexham Supporters Trust wichtige Grundlagen wie "keine Namensänderung", "keinen Stadionverkauf" sowie das Versprechen "wir gewinnen immer gegen Chester" - das ist der Lokalrivale, der aktuell allerdings nur sechstklassig spielt.

2022 stoppte Grimsby Town das für Fünftligaverhältnisse exzellent verstärkte Team erst im Halbfinale der Play-Offs an der Rückkehr in die Football League. Nun glückte der Aufstieg bereits am vorletzten Spieltag mit sagenhaften 110 Punkten (in der fünftklassigen „Nationwide“ spielen 24 Teams) und nach einem rasanten Titelrennen mit Notts County, ein weiterer dieser englischen Methusalem-Klubs, die im „modernen Fußball“ die Ligaleiter heruntergestürzt sind (gleich vier Ex-Football-League-Klubs stiegen diese Saison übrigens in die 6. Liga ab: Torquay, Yeovil, Scunthorpe und Maidstone). 


McElhenney und vor allem Reynolds leben ihr Engagement zum Klub ebenso emotional wie strikt öffentlich, und es besteht kein Zweifel, dass sie es tatsächlich mit Hingabe tun. Erfolg ist eben immer schön, auch (vor allem?) wenn ihm Investitionen zugrunde liegen. Das nun überall bejubelte „kleine walisische Fußball-Märchen“ ist dennoch nur bedingt geeignet für romantische Gefühle. Denn hinter Wrexham steht eine regelrechte Showindustrie. Die Doku "Welcome to Wrexham" lief erfolgreich auf „Disney+“ in ganz Nordamerika, das Merchandising-Geschäft boomt besser als bei so manch Zweitligisten, Spieler wie Englands Ex-Nationaltorhüter Ben Foster oder Torjäger Paul Mullin kamen sicher nicht aus purer Liebe in die fünfte Liga und die Pläne des Führungsduos sind ehrgeizig: Durchmarsch in die Championship.


Die Konkurrenz in League 2, League 1 und selbst Championship beobachtet das Treiben in der nordwalisischen Mittelstadt jedenfalls in einer Mischung aus (leicht neidischer) Faszination und Furcht. Wrexham wird in der kommenden Saison zweifelsohne auch in der League 2 (4. Liga) oben mitspielen und den Durchmarsch anstreben. Dafür sorgen soll erfahrenes Spielerpersonal - selbst der Name von Gareth Bale fällt inzwischen mit frappierender Häufigkeit. Wird der Ex-Madrilene demnächst tatsächlich im Jerseys des ältesten Klubs seiner Heimat auflaufen?


Das alles wäre nicht ohne die Anschubfinanzierung aus Hollywood möglich gewesen, und vor allem nicht ohne das enorme USA-Netzwerk der beiden Protagonisten. Reynold und McElhanny verstanden es geschickt, den abgewrackten Fußballklub in ein erfolgreiches Aschenputtel zu verwandeln, das nun vor allem in Nordamerika regelrecht hofiert wird. Selbst die "New York Times" widmete dem Viertligaaufsteiger einen großen Artikel, und auch der designierte englische König (und Prinz of Wales) gratulierte nach dem Aufstieg brav auf Twitter.

Die explodierende Popularität und die finanziellen Möglichkeiten haben Wrexham zu einer der aktuell interessantesten Adressen im englischen Ligafußball außerhalb der Premier League gemacht. Das Besondere: Wo beispielsweise Salford City mit den ehemaligen Manchester-United-Helden Ryan Giggs, Nicky Butt, Paul Scholes, den Neville-Brüdern Gary und Phil ("Class of 92") sowie Geschäftsmann  Peter Lim aus Singapur zumeist auf Ablehnung trifft, weil das Konstrukt zu offensichtlich mit Geld geschmiert ist, bilden in Wrexham gelebte Volksnähe, Emotionalität, Schauspielkunst und geschicktes Investment das Geschäftsmodell. Vor allem Ryan Reynolds spielt seine Rolle als klubbesitzender Fanboy sehr überzeugend.


Natürlich ist Wrexham nicht mit kühlen und berechnenden Investments à la Newcastle oder Chelsea zu vergleichen. Die Wiedergeburt des Klubs hat etwas zutiefst Romantisches, und sie zielt genau auf diese Emotion: Ein abgestürzter Traditionsverein kehrt mit Verve ins Blickfeld zurück, das lange Leiden für die Fans ist endlich zu Ende! Es ist ein eingeführter Name und kein namenloser Plastikklub. Zudem sind die beiden handelnden Personen sympathisch und authentisch, war der sportliche Saisonverlauf sowohl im FA-Cup (unglückliches Aus im Wiederholungsspiel bei Premier-League-Aspirant Sheffield United) als auch in der Liga mit dem dramatischen Zweikampf zwischen den beiden Uralt-Traditionsklub Wrexham und Notts County spektakulär.

Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Wrexham ein weiteres Investorenmodell ist, das den englischen Fußball aufmischen wird. Der Trainer meines Klubs, Drittligist Bristol Rovers, weiß jetzt schon, dass er 2023/24 mit seinem Budget nicht mal im Ansatz mit dem Neu-Viertligisten wird mithalten können, wenn es um Spielertransfers geht. Die Nordwaliser werden an allen vorbeirauschen und die Preise hochtreiben. Das Problem steckt im System.


Nun sind Geld und Investoren im Profifußball natürlich unerlässlich (im Übrigen schon seit den 1920er Jahren), und auch meine Rovers stecken selbstverständlich in diesem System und stützen es. Profifußball ist nun mal Showbusiness. Was am Beispiel Wrexham neu ist, ist die Hollywoodisierung eines Fußballvereins. Denn das Investment der beiden Schauspieler richtet sich nur bedingt auf den nordwalisischen Markt (der freilich begeistert ist, Wrexham kam 22/23 auf einen Schnitt von 10.000 Besuchern, das Stadion wird aktuell ausgebaut auf 15.600 Plätze). Aus Wrexham ist ein globaler Liebling geworden, der mit seiner Andersartigkeit die Emotionen bewegt und dabei signifikant von der Popularität der beiden Schauspieler profitiert.

Im Sommer wird der Viertligaaufsteiger bei einer Gastspielreise durch die USA u.a. auf Chelsea und Manchester United treffen – vor vermutlich ausverkauften Rängen - und die Twitter-Meldung vom Aufstieg am Samstag erzielte sagenhafte 15 Millionen Views. Schon in der abgelaufenen Saison hat man in den USA als Fünftligist regelmäßig ein beachtliches Auditorium vor die Bildschirme gelockt und den dortigen Sendeanstalten viel Geld eingespielt.


Soviel zum „modernen Fußballmärchen“.

Bei aller Zurückhaltung überwiegt aber die Freude, dass der Klub zurück in der Football League ist. Auch ich kann mich nicht davon frei machen, dort lieber einen hollywoodisierten Wrexham AFC zu sehen als einen Plastikklub wie Salford City. Irgendwie sind wir eben doch alle Romantiker.

Unsere aktuelle Ausgabe

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Zukunft des Fußballs: Alina Schwermer mit einem Plädoyer für die Umgestaltung des Fußballs
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Jays Corner: FK Viktoria Žižkov
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International: Wrexham AFC, Bradford City

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