KLARTEXT
Alles eine Einstellungssache?
Dietrich Schulze-Marmeling
(23. November 2023)
Seit einiger Zeit verspüre ich zusehends weniger Lust, die Tastatur zu bearbeiten, wenn die DFB-Elf mal wieder "versagt" hat. Das hat mit dieser Elf wenig zu tun. Auch nicht mit ihren Trainern.
Ich empfinde einen Großteil der Diskussionen nur noch als nervig, oberflächlich, populistisch und als ständige Wiederholung.
Noch weniger verspüre ich Lust, anschließend die Zeitungen zu studieren. Und schon gar nicht mag ich mehr den Ausführungen von Matthäus, Hamann, Freund, auch nicht von Mertsacker zu lauschen. Intelligentes vernimmt man in der Regel vor allem aus dem Munde von Christoph Kramer. Bei den anderen habe ich den Eindruck, dass sie das Gefühl für das, was auf dem Rasen läuft, verloren haben.
Jetzt ist wieder von "Einstellung", "Mentalität", einem Mangel an "deutschen Tugenden" etc. die Rede - wie immer, wenn es schwierig ist, die Dinge zu erklären. Einige Ex-Spieler brillieren mit einem kurzen Gedächtnis. Als ob sie vergessen hätten, was in solchen Situationen im Kopf von Spielern vorgeht.
Da sind einige auf dem Feld, die sind vielleicht übermotiviert - bis an den Rand zur Wut (z.B. Sané). Die wollen es für SICH wissen, das MUSS jetzt aber... - worunter das gemeinsame Spiel leidet. Andere sind verunsichert, was sich u.a. in technischen Fehlern äußert, die ihnen im Verein nicht unterlaufen. Warum dort nicht? Hat das wirklich etwas mit Taktik und dem Bundestrainer zu tun?
Eigentlich sollten diese Fehler gar nicht überraschen. Schließlich geht das alles schon seit 2016 so. Zwischendurch immer mal wieder ein Spiel, vielleicht auch zwei, nach denen man hofft, es geht wieder bergauf, wir verlassen die Negativschleife. Leichter Aufwärtstrend auf der USA-Reise. Führung gegen die Türkei, schön herausgespielt. Ausgleich für die Türkei - und gleich wieder die Angst: Es wird nicht besser, der ganze Mist geht wieder von vorne los. Was dann auch der Fall ist, die Türken gewinnen das Spiel.
Jetzt muss aber in Wien ein Sieg her, ansonsten sind wir wieder komplett in der alten Schleife! Auch der Rest des Glaubens an die eigene Stärke wäre dann weg. (Fußball ist halt "ein Spiel für den Kopf", sagt Johan Cruyff). Rehabilitieren können wir uns dann erst wieder im März, aber bis zur EM sind es dann nur noch drei Monate.
Vermutlich wäre es für dieses Team besser, würde die EM nicht im eigenen Land stattfinden. Was den Erwartungsdruck ja extrem erhöht. Denn offensichtlich ist die DFB-Elf für die Laune eines ganzen Landes verantwortlich, das auch schon ohne Fußball und Niederlagen gegen Türken und Österreicher extrem mies gelaunt ist. Ein "Sommermärchen 2.0" muss es sein!
Und hieß es nicht nach den Pleiten von 2018, 2021 und 2022: "Wichtig ist, dass wir bei der EM im eigenen Land wieder Spitze sind!"
Nun heißt es, auch das haben wir schon x-mal gehört und gelesen, andere Nationen seien einfach bissiger und hungriger. Vielleicht ist einfach so: Die Erwartungen sind hier deutlich geringer, die Spieler somit mental freier. Und dann gibt es auch noch Nationen, die einfach besser sind.
Last but not least - je weniger jemand vom Fußball versteht sogar "first" - ist das alles natürlich symptomatisch für den Zustand des Landes. Und für die Defizite einer Generation - diesen Blödsinn muss sich wohl jede Generation anhören.
Den treffendsten Kommentar erhielt ich per What's App eine halbe Stunde nach dem Spiel: "Es ist schon Wahnsinn, wie schlecht es über einen so langen Zeitraum für die Nationalmannschaft läuft. Und das bei einer Spielerqualität, die noch immer hoch ist."
Ich glaube, es liegt einfach so eine Schwere auf der Situation, auf diese Gruppe - die kommen da einfach nicht mehr raus. Die fahren dahin und wissen, dass alle nur darauf warten, dass sie es nicht hinbekommen, um zu sagen, dass die Spieler ja nicht wollen etc.
Es ist auf der einen Seite sehr interessant, weil es ja zeigt, wie hochkomplex dieses Spiel ist, wenn da elf veschiedene Charaktere auf dem Platz stehen, die alle unterschiedlich mit so einer Situation umgehen.
Auf der anderen Seite habe ich auch gar keine Häme mehr dafür übrig, ich finde es einfach nur noch sehr schade. So ein schönes Turnier im Sommer, bei dem man sich über die Truppe freut, täte eigentlich mal wieder gut.
Im Übrigen: Noch schlechter als die performance der Mannschaft ist die einiger DFB-Größen. Rudi Völler erscheint im DFB-Dress beim rechtspopulistischen Portal Nius - zum Gespräch mit Waldi Hartmann. Geht's noch tiefer? Und DFB-Präsident Bend Neuendorf will uns nicht verraten, warum er in Sachen WM 2030 so abgestimmt hat, dass Saudi-Arabien die WM 2034 veranstalten darf.
Was bin ich froh, dass es bis zum März kein Länderspiel gibt.
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Rest der Welt: Preston North End, CA Peñarol, Belfast Celtic