Gedanken zum Spiel

Eine Kolumne von Harald Lange

Harald Lange ist Professor für Sportwissenschaften und leitet das sportwissenschaftliche Institut der Uni Würzburg. Er beobachtet seit vielen Jahren den Fußball, die Entwicklung der Fanszene  und  die gesellschaftliche Rolle des Sports. Für ZEITSPIEL beschäftigt er sich in der Kolumne "Gedanken zum Spiel" unregelmäßig-regelmäßig mit aktuellen Themen aus der Welt des Fußballs 

Über Moral, Gewalt und Fairplay

24. Juli 2023

„Alles was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball.“ 

 

Diese Zeilen stammen von Albert Camus (1913-1960), dem französischen Nobelpreisträger für Literatur (1957), der neben Philosophie und Sprache vor allem den Fußball liebte. Er spielte als Kind in den Straßen von Algier und später als Torwart für den algerischen Club Racing Universitaire d'Algier (RUA). Nur wenige Jahre aktiv, aber er war offensichtlich zeitlebens Fußballfan. 

Es ist nicht leicht zu rekonstruieren, was genau ihm an diesem Spiel fasziniert und so sehr gebunden haben könnte. Möglicherweise ist es das Gleiche wie bei vielen anderen, die das Spiel spielen und lieben: Der Bezug zum realen Leben. In der Auseinandersetzung mit anderen Menschen offenbart uns der Fußball gigantische Möglichkeiten, aber auch Grenzen. Wir müssen einerseits die Schwächen des Gegners herausfinden und ausnutzen. Andererseits müssen wir den Gegner aber auch respektieren und wertschätzen, denn ohne ihn gäbe es kein Spiel. Mehr noch: Je stärker unsere Gegner spielen, desto reizvoller kann das Spiel werden. 

 

Fußball ist Lebensschule 

Vor diesem Hintergrund verstehe ich das einleitende Zitat des Nobelpreisträgers. Für ihn war der Fußball ganz offensichtlich eine Schule des Lebens. Möglicherweise sogar eine Art Lebensphilosophie. Der Fußball stellt Anforderungen, die ich nicht nur als Spieler, sondern als Persönlichkeit und ganzer Mensch bewältigen muss. Niemals allein, sondern immer im Verbund mit meinen Mitspielern, aber auch gegen den Widerstand der Gegenspieler. Dabei ist längst nicht alles erlaubt, was den Sieg bringen kann. Es gibt einerseits ein offizielles Regelwerk und andererseits tausende von Gelegenheiten, in denen ich mein ethisches und moralisches Können unter Beweis stellen kann. 

Das Spiel verlangt den Spielerinnen und Spielern vor allem Respekt, Wertschätzung und Achtung gegenüber den Mit- und Gegenspielern ab. Auf dem Platz sind in dieser Hinsicht alle Spieler gleich. Genau deshalb kann der Fußball ein wunderbares Mittel sein, um Elemente des sozialen Miteinanders und Lernens zu erfahren und einzuüben. 

 

Fairplay 

Im Sport nennen wir die sich hier abzeichnende Haltung „Fairplay“. Diese Haltung ist nicht nur für mich und viele andere Sportpädagogen wichtiger als das Ergebnis eines Wettkampfes. Auch Fußballfans erkennen hier oftmals den zentralen Wert des Spiels und protestieren gegen alle Formen von Ungerechtigkeit, die dem Spiel den Sportsgeist nehmen. Noch heute werden in der englischen Premier League Spieler von den eigenen Fans ausgepfiffen, wenn sie eine Schwalbe provozieren. Darüber hinaus richten sich die allermeisten Fanproteste in der Bundesliga der letzten Jahre gegen Einflüsse, die die Chancengleichheit, Solidarität und den fairen Wettbewerbscharakter des Ligabetriebs gefährden könnten. 

 

Der schmale Grat zwischen Spielverderber und Fairplay 

Doch zurück zu diesem wunderbaren Zitat von Albert Camus. Die Spielidee des Fußballs stellt Anforderungen, die ihm zu einem idealen Feld der Fairplay-Erziehung machen können. Beobachtungen auf dem Bolzplatz zeigen uns, dass sowas teilweise auch von ganz allein läuft und keiner Regulierung durch Sozialpädagogen oder anderer Experten bedarf. Wer immer nur auf sich fixiert ist und die Mitspieler viel zu wenig im Blick hat, der wird ebenso als Spielverderber gebrandmarkt, wie derjenige, der schummelt, foul spielt, lügt oder sich in anderer Weise respektlos verhält. 

Der Grat zwischen dem wahrhaften Fußballer und dem Spielverderber ist schmal. Deshalb war zweifelsohne jeder von uns schon mehrmals in der einen oder anderen Rolle und hat am eigenen Leib bemerkt, wie sich das anfühlt. 

 

Gewaltprävention als Thema der Trainingspädagogik 

An dieser Stelle kommt die Pädagogik bzw. die Trainingspädagogik des Fußballs ins Spiel, denn solche Fairplay-Erfahrungen können der perfekte Nährboden für alle Themen des sozialen Lernens sein. 

Auch für die Herausforderungen, die sich seit vielen Jahren zum Thema Gewalt und Gewaltprävention stellen, denn da scheint der organisierte Fußball ratlos zu sein. Der DFB nimmt sich seit vielen Jahren dieser Thematik an und hat auch einen eigenen Strukturbereich hierfür ausgewiesen. In der Kommission „Gesellschaftliche Verantwortung“ werden die Themen Fair Play/ Gewaltprävention an vorderster Stelle behandelt. Die Verantwortlichen haben im Laufe der Jahre auch ein additives Konzept erstellt, mit dem sie in drei so benannten „Bausteinen“ das Problem in den Griff bekommen wollen. Den Ansatz und die Zielstellung gibt der erste Vizepräsident des DFB, Ronny Zimmermann in der Einleitung dieser Homepage vor: 

„Wir müssen wieder lernen, anständig - und das heißt zuallererst gewaltfrei - miteinander umzugehen. Wir haben ein gesellschaftliches Problem in Umgang, Respekt und Verhalten. Das zeigt sich nicht zuletzt im Fußball. Der DFB und seine Landesverbände bemühen sich, durch zahlreiche präventive Maßnahmen, die Anzahl von Gewaltvorfällen einzudämmen.“ 

 

Überwinden des additiven Ansatzes 

Der Stellenwert dieser Thematik wird beim DFB großgeschrieben. Das ist zu begrüßen. Die „zahlreichen präventiven Maßnahmen“ scheinen allerdings noch nicht die Wirkung zu entfalten, die wir uns alle erhoffen. Das ist zu bedauern und dem ist entgegen zu wirken. 

Wenn wir uns mit Blick auf das Zitat von Albert Camus der These anschließen können, dass das Fußballspiel an sich eine Schule des Fairplay sein kann, dann spricht vieles dafür, dass wir einen integrativen Ansatz für die Prävention wählen und mit allen Maßnahmen von vornherein und ganz selbstverständlich dort ansetzen, wo das Spiel gelernt wird. Im Training von Kindern und Jugendlichen und damit in der Aus- und Weiterbildung aller Trainer. 

Wenn wir die Philosophie des Spiels in dem Sinne vermitteln, dass erst die Wertschätzung und der Respekt gegenüber dem Gegner die besondere Qualität des Spiels ausmachen, liegt es nahe, dass wir gar keine zusätzlichen Schulungen, Appelle, Bestrafungen oder additiven Bausteine mehr brauchen. 

Das Herausbilden solch einer Haltung ist nicht neu. In den Kampfsportarten wird die Wertschätzung gegenüber dem Kampfpartner (der übrigens aus gutem Grund als „Partner“ wahrgenommen wird) von der ersten Trainingseinheit eingeübt. Mit nachhaltigem Erfolg, denn die so erzogenen Kampfsportler verhalten sich im Wettkampf fair und prügeln sich weder nach einer Niederlage, noch auf dem Schulhof. Dort bildet sich vorbildlicher Sportsgeist aus! 

 

Herausforderung Kinder- und Jugendfußball 

Der Amateur- aber auch der Kinder- und Jugendfußball hat seit vielen Jahren ein handfestes Gewaltproblem, dass die Verantwortlichen trotz zahlreicher Medienkampagnen, Präventionsprojekte und anderer Initiativen nicht in den Griff bekommen. In der Ursachenzuschreibung gehen wir zumeist von „allgemeinen gesellschaftlichen Problemlagen“ oder von Tätern aus, die mit einer gewissen kriminellen Energie auf die Sportplätze kommen. Darüber hinaus gibt es aber noch mindestens einen dritten Ansatz: Gewalt entsteht zuweilen auch aus dem Spielverlauf heraus und schaukelt sich hoch. Sosehr, dass selbst friedliche und unauffällige Sportlerinnen und Sportler Grenzen überschreiten. 

 

Zum Tod eines Jugendlichen auf dem Fußballfeld 

Diese These spiegelt sich in einem Bericht des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ wider. Dort wird mit etwas Abstand und guter Recherche der jüngste traurige Höhepunkt der Gewalteskalation im Deutschen Fußball zum Thema gemacht. Dieser fand vor knapp drei Monaten auf einem Fußballplatz in Frankfurt-Eckenheim statt. Am Pfingstsonntag (28. Mai) war es nach dem Abpfiff eines Fußballspiels zwischen zwei Jugendmannschaften aus Berlin und Metz/Frankreich zu einer Schlägerei gekommen. Am Ende starb der 15- jährige Paul aus Berlin, kam ein 16-jähriger Fußballer aus einem französischen Nachwuchsleistungszentrum in Untersuchungshaft. 

In den Tagen nach dem Vorfall überstürzten sich die Nachrichten und Kommentare zu diesem Vorfall. Die Fußballwelt war ebenso erschüttert, wie ratlos. Wie konnte das passieren? Wie ist das zu erklären? Hat der Fußball inzwischen auch im Jugendbereich ein Gewaltproblem? Engagieren wir uns ausreichend in Sachen Gewaltprävention? Was können und müssen wir besser machen? Oder sind wir einfach nur einer bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklung ausgeliefert, der wir aus dem Sport heraus nichts entgegenstellen können? 

 

Wir brauchen einen neuen Ansatz 

Die einfachste aller Erklärungen benutzt auch DFB Vize-Präsident Ronny Zimmermann am Tag nach dem schrecklichen Ereignis, indem er den immer gleichen Satz formuliert: „Wir haben ein gesellschaftliches Problem in Umgang, Respekt und Verhalten. Das zeigt sich nicht zuletzt im Fußball. Der DFB und seine Landesverbände sind bestrebt, durch zahlreiche präventive Maßnahmen, die Anzahl von Gewaltvorfällen einzudämmen. Der aktuelle Fall zeigt mit trauriger Nachdrücklichkeit, dass wir hier hart und mit höchstem Engagement weiterarbeiten müssen.“ 

Fragt sich nur: Woran und wie? Die eigenen Zahlen des DFB malen ein düsteres Bild für den Amateursport: In der Saison 2021/22 wurden laut offizieller Statistik 911 Spiele im Amateurbereich abgebrochen. Viele wegen Gewaltdelikten, aber auch aufgrund von Diskriminierungen. Neben den offiziellen Zahlen können wir in diesem Bereich von einer beachtlichen Dunkelziffer ausgehen. Beleidigungen, Diskriminierungen und Pöbeleien führen schnell zu Rudelbildungen und ersten Handgreiflichkeiten und offensichtlich immer schneller zu regelrechten Prügeleien. 

 

Gewalt, die aus dem einfachen Spielgeschehen heraus entsteht 

Genauso wie im Falle des schrecklichen Beispiels aus Frankfurt, dass die Staatsanwaltschaft und das Gericht noch eine Weile beschäftigen wird. Auch wenn in den Medien in den Tagen nach dem tragischen Vorfall die beiden klassischen Ursachen „krimineller Täter“ und „gesellschaftliches Problem“ im Vordergrund standen, ist es den Redakteuren des Spiegel in ihrem aktuellen Bericht gelungen auf der Grundlage der Zeugenaussagen, Fotos und Handyvideos ein differenziertes Bild zum Geschehen zu rekonstruieren. Sie haben mit allen Seiten gesprochen und kommen nach der Durchsicht des Materials zu dem Schluss, dass aus einer Kette belangloser Spielsituationen, Beleidigungen, Schubsereien, Rudelbildungen und Handgreiflichkeiten eine tödliche Eskalationsspirale unter Teenagern erwachsen ist. 

 

Erschreckend: Im Grunde hätte es jeden treffen können! 

Im Grunde hätte es auch jeden anderen Spieler, der an diesem Tag auf diesem Spielfeld stand, treffen können. Nun ist einer tot und ein anderer in Untersuchungshaft. Außerdem wissen wir knapp drei Monate nach dem Vorfall aufgrund der bisherigen Rekonstruktion des Geschehens, zu welch fatalen Konsequenzen sich Spielsituationen aufschaukeln können. Ich meine das wir uns dieses „Aufschaukeln“ auch in unseren Vereinen und Mannschaften genau anschauen müssen. In den allermeisten Fällen geht das halbwegs glimpflich aus. Dennoch lohnt es sich diese Unart aus dem Fußball herauszunehmen. Nicht nur mithilfe von Appellen, Strafen, Maßnahmen von Gewaltprävention oder gesellschaftlichem Wehleiden, sondern durch konkrete Arbeit in jeder Trainingseinheit. Der alte Begriff des „Fairplay“ muss wieder ehrlich gelebtes Leitbild des Fußballs werden. 

 

Fazit 

Meine Forderung läuft letztlich auf einen überschaubaren, aber bedeutsamen Kulturwandel hinaus. Möglicherweise ließe sich die Wirksamkeit der zahlreichen Bausteine und Maßnahmen zur Gewaltprävention, die allesamt klug durchdacht und überaus engagiert betrieben werden, noch steigern. Dafür muss es uns gelingen, Werte wie Fairplay, Respekt, Achtung, Wertschätzung usw. als unumstößliche Normen in jedes Training und Spiel zu bringen. Ohne Ausnahme! 

So nachhaltig, dass in Zukunft jedes Kind im Fußball die gleichen Lern-, Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten haben kann, wie sie einst der französische Nobelpreisträger Albert Camus erfahren durfte: Der Fußball findet seinen Sinn nicht im Gewinnen oder Verlieren, sondern zuallererst in der wertschätzenden Auseinandersetzung mit den Spielpartner aus der eigenen und der fremden Mannschaft. Jedes Fußballspiel ist eine Schule des Fairplay! 

 

 

Quellen 

Eine virtuelle Reise durch die Wappenwelt der englischen Football League seit 1888. Mit 139 Vereinen und über 1.400 Wappen.

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