Gedanken zum Spiel

Eine Kolumne von Harald Lange

Harald Lange ist Professor für Sportwissenschaften und leitet das sportwissenschaftliche Institut der Uni Würzburg. Er beobachtet seit vielen Jahren den Fußball, die Entwicklung der Fanszene  und  die gesellschaftliche Rolle des Sports. Für ZEITSPIEL beschäftigt er sich in der Kolumne "Gedanken zum Spiel" unregelmäßig-regelmäßig mit aktuellen Themen aus der Welt des Fußballs 

Sammer-Interview

Der DFB im Spannungsfeld zwischen Floskel-Bingo und Fundamentalkritik 

5. September 2023

 

Die von Matthias Sammer im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vorgetragene Kritik hätte dem DFB und der Nationalmannschaft im Dezember vergangenen Jahres gutgetan. Wahrscheinlich tut sie das heute auch. Allerdings bringt sie gleichzeitig vermeidbare Unruhe in die Vorbereitung des Teams auf die anstehenden Länderspiele gegen Japan und Frankreich. Und in diesen Spielen geht es für Bundestrainer Hansi Flick bekanntlich um alles oder nichts. 

 

Sammers Analysen sind nicht nur aus seiner Sicht schlüssig und markieren einen Führungsanspruch. Er will sagen wo es langgeht im Deutschen Fußball. Mir gefällt dieser Vorstoß obwohl er inhaltlich sicherlich nicht von allen Fußballexperten im Land geteilt wird. Deshalb wäre es ein Gewinn für den DFB, wenn die führenden Experten des Landes ab jetzt in die öffentliche Debatte einsteigen würden und um die besten Ideen und Konzepte für die Zukunft des Fußballs streiten. Nicht nur am Stammtisch und im Austausch von Spielernamen und Fußballfloskeln, sondern ernsthaft und in vergleichbar komplexen Argumentationsfiguren, wie es Matthias Sammer gerade getan hat. 

 

Ausgangslage 

Siegertypen wissen, woran es gelegen hat. Sie kennen die Ursachen für den Erfolg ebenso wie die Gründe für den Misserfolg. Beim DFB fällt es spätestens seit der WM 2018 schwer, das Scheitern bei internationalen Turnieren zu erklären. Darüber hinaus ist man im größten Sportverband der Welt seit nunmehr drei Turnieren in Folge nicht in der Lage, eine mitreißende Idee und Vision für die erfolgreiche Zukunft zu entwickeln. Neun Monate vor dem Eröffnungsspiel der Heim-Europameisterschaft stehen die Verantwortlichen an der Spitze des Verbandes ratlos da. 

 

Nach dem enttäuschenden Vorrunden Aus bei der WM in Katar wurden wir mit Ausreden und jeder Menge Floskeln bedient. Angeblich waren die „One-Love-Binde“ und andere Ablenkungen schuld. Der Bundestrainer zelebriert die Freiheit des Experimentierens, der beliebte Sportdirektor Rudi Völler verbreitet gute Laune und übte sich bei einem großen Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“ im Februar dieses Jahres gemeinsam mit DFB-Präsident Bernd Neuendorf in einem unterhaltsamen Floskelbingo, anstatt ernsthaft und kriteriengeleitet über die sportliche Zukunft der Nationalmannschaft zu diskutieren. 

 

Für diesen Zweck wurde im Januar 2023 eine mit prominenten Männern besetzte Taskforce einberufen. Neben Bernd Neuendorf und dem Vizepräsidenten sowie Liga-Boss Hans Joachim Watzke begrüßte man Rudi Völler, Oliver Mintzlaff, Oliver Kahn, Karl-Heinz Rummenigge und Matthias Sammer im Kompetenzteam, dass den deutschen Fußball retten sollte. Nach der Bauchentscheidung von Hans Joachim Watzke, Rudi Völler sogleich zum Sportdirektor zu machen, wurde es still in dieser Gremienarbeit. Bis sich vergangene Woche Matthias Sammer zu Wort meldete und der Öffentlichkeit in markanten Worten vorführte, dass es im deutschen Fußball auch eine Analyseebene jenseits des Floskelbingos gibt. 

 

Klartext Sammer 

Matthias Sammer redet in diesen Tagen Klartext und bekommt Applaus für seine Kritik am DFB, der Nationalmannschaft und dem Zustand des deutschen Fußballs. Dabei drängt er sich geradezu in die Öffentlichkeit. Unmittelbar vor den beiden wichtigsten Länderspielen des Jahres nutzt er die Aufmerksamkeit und haut erstmal über den Boulevard (Bild Zeitung & Podcast Phrasenmäher) heftig drauf, ohne inhaltlich konkret zu werden: 

 

„Ich werde mich früher oder später noch deutlicher zu Wort melden, denn der deutsche Fußball ist in meinen Augen in der größten Krise, seit ich denken kann. Wir sind maximal Weltmeister und Europameister im Ausredensuchen und darin, Erklärungen zu finden, warum es nicht funktioniert“ (…) „Ich bin schockiert und fassungslos, wie man diese Riesenkrise schönredet, ohne dass man Verantwortung übernimmt“. 

 

Die Inhalte liefert er wenige Tage später in einem ausführlichen Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Bestens präpariert, wie die beiden Journalisten Moritz Kielbassa und Christof Kneer gleich in den ersten Zeilen betonen: „Matthias Sammer hat sich gut vorbereitet. Zum Termin mit der SZ kommt er mit einem Notizblock unterm Arm, er will ja nichts vergessen.“ 

 

Das, was Sammer in diesen Tagen vorlegt, hat es in mehrerlei Hinsicht in sich. Neben interessanten fußballerischen Aspekten erfahren wir in diesem öffentlichen Auftritt des Mitglieds der DFB Taskforce aus erster Hand auch viel über den inneren Zustand der Führungsriege des Deutschen Fußball-Bundes: Das „SZ“-Interview und seine populäre Ankündigung über die „Bild“-Zeitung ist ein einzigartiger Offenbarungseid für den DFB. 

 

Hinsichtlich der Bewertung dieses Vorgangs können wir zwischen zwei grundverschiedenen Sichtweisen wählen: Ist der DFB mit der sportfachlichen Aufgabe, den Weg zurück in die Weltspitze des Fußballs zu organisieren, überfordert? Oder: Ist Task-Force Mitglied Matthias Sammer in der Art und Weise wie er sich, am DFB und seinen Gremien vorbei, an die Öffentlichkeit wendet, einfach nur indiskret? Da sich der DFB bislang nicht zur Sammer-Kritik geäußert hat, bleibt zunächst allein die Rechtfertigung, mit der Sammer seinen öffentlichen Vorstoß begründet: 

 

„Zunächst mal: Ich biete hier keine Mitarbeit an. Und ich will auch nicht, dass man mir jetzt vorwirft, dass ich mit diesem Thema an die Öffentlichkeit gehe, anstatt es intern anzusprechen. Dem entgegne ich: Was, wenn man intern alles schon zehnmal angesprochen hat, und es hat sich einfach nichts verändert? Und wenn Sie mich nach einer Mitarbeit fragen: Da muss man einfach nur miteinander reden.“ 

 

„Seien wir doch mal ehrlich: Wir liegen am Boden.“ 

Sammer fühlt sich „als Teil der deutschen Fußball-Familie“ und hält es ganz offensichtlich nicht länger aus, den Niedergang des deutschen Fußballs aus dem weichen Sessel dieser prominenten Taskforce Männer Runde zu beobachten. Aus diesem Grund wird er emotional, bricht mit den Gepflogenheiten der Gremienarbeit und prescht an all den ratlosen Fußballfunktionären (aber auch an den Kollegen aus der Taskforce) vorbei. Er hat offensichtlich keine Lust die sichtbaren Probleme noch ein elftes oder zwölftes Mal in den DFB Gremien bzw. der DFB-Taskforce zu besprechen. Deshalb bricht er aus und wendet sich über die Medien mit Klartext an das Fußballvolk. Er spricht das aus, was alle längst wissen: „Ich finde, wir sind in der größten Krise, die der deutsche Fußball in der jüngeren Vergangenheit erlebt hat.“ 

 

Damit spricht er vielen Fans und Fußballern aus der Seele. Das Nationalteam und der Verband sind nach den Chaosjahren in Sachen Steuerfahndung, Sommermärchen-Aufarbeitung, Beraterverträgen, Machtspielen unter den Top Funktionären und vielen anderen sportpolitischen Irrungen nun auch sportlich am Ende. Und trotz aller Beschwichtigungsversuche und Schönfärbereien glaubt inzwischen niemand mehr ernsthaft an eine Wiederholung des Sommermärchens 2006 oder gar an einen Titelgewinn. Sammer hat Recht: „Wir liegen am Boden.“ Und es ist gut das das endlich mal jemand aus der Chefetage so schonungslos auf den Punkt bringt. 

 

„Schauen Sie sich die letzten Ergebnisse an! Auch wenn die U17 Europameister geworden ist - unsere A-Nationalmannschaft ist bei den drei letzten Turnieren früh ausgeschieden, wir können froh sein, dass wir uns für die nächste EM als Gastgeber nicht qualifizieren müssen. Dazu das Scheitern der U21 bei der EM und jetzt das WM-Vorrunden-Aus der Frauen. Und was passiert? Nichts! Außer, dass wir jedem erklären, was alles schuld war. Wir sind nur noch Weltmeister im Ausredensuchen. Ich bin fassungslos, wie man das alles schönreden und verdrängen kann. Wissen Sie, was jetzt nötig ist? Wir müssen uns dem stellen und Lösungen finden. Nicht einfach weitermachen und weiterhoffen!“ 

 

Kontrast zum Floskelbingo von Neuendorf und Völler 

Sammer liefert sowohl in der Klarheit seiner Argumente, wie auch in der Schärfe seiner Kritik eine überfällige Alternative zum „Funktionärssprech“, den wir von den DFB-Oberen in Sachen Analyse und Zukunftsplanung kennen. 

 

Die hoffen nach wie vor auf ein fußballerisches Wunder und auf gutgläubige Fans, die aus einem gegebenen Urvertrauen heraus zurück zur Nationalmannschaft und der bedingungslosen Unterstützung finden. Hierzu ein treffender Exkurs, der am 15. Februar dieses Jahres schon einmal in der „Torgranate“, einem Onlineportal für den Amateurfußball, veröffentlicht wurde: 

 

Am Samstag, den 11. Februar 2023, waren Rudi Völler und Bernd Neuendorf als Gäste von Moderator Sven Voss in das „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF eingeladen. Sie sollten der Öffentlichkeit den Fahrplan für die DFB-Auswahl Richtung EURO 2024 erläutern. Das taten sie dann auch. Allerdings in ganz anderer Weise als Sammer. 

 

Rudi Völler wurde vom Publikum mit wohltuendem Beifall empfangen. Lautstark, nachhaltig und ehrlich. Solch einen euphorischen Empfang hatten wir lange nicht mehr für einen DFB-Offiziellen. DFB-Präsident Neuendorf gefiel es sichtlich, sich ebenfalls im Applaus sonnen zu können und betonte treffend, dass sich die Verpflichtung von Völler bereits jetzt für den Verband bezahlt gemacht habe. 

 

Das war es dann aber auch. Der Rest des Auftritts war inhaltsleerer Kaffeeklatsch. Beeindruckend war allein die Ausdauer von ZDF-Mann Sven Voss, der nicht müde wurde immer neue Fragen an die beiden Herren zu richten. Die inhaltliche Zusammenfassung dieses denkwürdigen Gesprächs ist schnell erledigt: Beide verfolgen den Ansatz, dass die A-Nationalmannschaft den gesamten Verband retten und das ramponierte Image wiederherstellen soll. Durch „begeisternden Fußball“. Wie sie sich den vorstellen, was dafür zu tun ist und woher der kommt: Kein einziges Wort. 

 

Damals wurde der fußballinteressierten Öffentlichkeit vorgeführt, dass die DFB Spitze zwar einen charismatischen und volksnahen Sportdirektor hat, aber definitiv nicht imstande sein wird, eine Vision für die Zukunft des deutschen Fußballs bzw. eine belastbare Bestandsaufnahme zu den Geschehnissen der zurückliegenden Jahre vorzulegen. Stattdessen eine Aneinanderreihung von inhaltsleeren Floskeln, wie wir sie im deutschen Fußball wohl noch nie erlebt haben. 

 

Entstanden ist ein Floskelbingo zweier sympathischer Männer, die sich rhetorisch gut ergänzen, tatsächlich aber keinen Plan haben. Dafür jedoch unglaublich viel Mut, sich derart blank in das „Aktuelle Sportstudio“ zu setzen. Genau an dieser Stelle liegen daher auch der Wert und die Erkenntnis dieses Spitzengesprächs aus dem deutschen Fußball: die Fußball-Floskel ist schließlich so etwas wie ein Kulturgut in Deutschland. Floskeln muss man nicht erörtern und diskutieren. Sie unterhalten gerade in ihrer nichtssagenden Ironie. 

 

Um das zu verdeutlichen eine Top 12 Liste wunderbarer Fußballfloskeln aus dem Auftritt der DFB Spitze im Aktuellen Sportstudio: 

 

  • 1.     Neuendorf: Rudi Völler weiß vor allen Dingen, (…) „wo das Tor steht“ 
  • 2.     Völler: „Wir müssen nach vorne schauen“ 
  • 3.     Neuendorf: „Der Schwerpunkt muss darauf liegen, sportlichen Erfolg zurückzugewinnen“ 
  • 4.     Völler: „Nur mit Innovationen wird es nicht funktionieren. Auch die Basics müssen funktionieren“ 
  • 5.     Neuendorf: „Die Ausgaben übersteigen regelmäßig die Einnahmen auch aufgrund der sportlichen Misserfolge“ 
  • 6.     Völler auf die Frage wie das mit der Begeisterung gelingen soll: „auf dem Platz“ durch „tollen Fußball“ 
  • 7.     Neuendorf über Hansi Flick: „Ich glaube, dass es einige Dinge geben wird, die er ändern wird“, (…) „vielleicht auch neue Spieler ausprobieren.“ 
  • 8.     Völler: „Ich glaube schon das wir eine sehr gute Mannschaft haben“ 
  • 9.     Neuendorf: „Es geht nicht nur um Zeichen oder eine Projektionsfläche für alle gesellschaftlichen Probleme, die wir haben. Der Fußball hat einen Wert an sich“ 
  • 10.  Völler: Wir wollen eine tolle EM spielen und die Zuschauer zurückgewinnen. Und ich will helfen das Hansi Flick sich nur auf den Fußball konzentrieren kann“ 
  • 11.  Neuendorf: „Wir müssen konstatieren , dass wir ein strukturelles Defizit haben“ 
  • 12.  Völler: „Bei einigen Grundtugenden waren uns die Argentinier oder auch die Marokkaner einen Tick voraus“ 

 

Die Geschehnisse seit Februar und Ergebnisse in den letzten Länderspielen haben gezeigt, dass wir uns auf Grundlage dieser unterhaltsamen, aber inhaltsleeren Herangehensweise in der Problemlösung keinen Zentimeter weiterbewegt haben. 

 

Kommt mit Sammer eine Lösung in Sicht? 

Die Aussagen von Matthias Sammer im „SZ“-Interview sind von anderer Qualität. Er hat sich Gedanken gemacht, treibt seine Analyse voran und nennt sowohl auf inhaltlicher, wie auch auf strategischer und personeller Ebene Konsequenzen. In der Zusammenschau wirken seine Aussagen nicht nur in der gegebenen Fachlichkeit, sondern auch in ihrer machtbeflissen und emotionalen Dimension. Im Kern seiner Philosophie fordert er einen „Anführer“, und aus seinen Zeilen geht unmissverständlich hervor, dass er höchstpersönlich dieser Anführer für den Deutschen Fußball sein will. Nicht allein, sondern in einer ungewöhnlichen „Meister-Lehrling“ Konstellation. Sammer sieht in Sami Khedira denjenigen, der im DFB sagen soll, wo es langgeht. Dass der Ex-Nationalspieler über keinerlei Führungs- und Konzepterfahrung außerhalb der eigenen Spielerkarriere verfügt ist für Sammer Nebensache, denn er wäre bereit Khedira, bei dieser zentralen Führungsaufgabe an die Hand zu nehmen. 

 

Sami war mein Vorschlag. Der hat sich bei Real Madrid durchgesetzt, er war sechs Jahre bei Juventus. Er war Kapitän der U21-Europameister 2009, er wurde 2014 Champions League-Sieger und Weltmeister. Der hat Qualitäten, die kannst du nicht lernen - die musst du haben. Er ist einfach ein Winner-Typ. Verstehen Sie es richtig: Nicht er hat sich beworben. Ich habe ihm gesagt: Du bist genau der Richtige, du musst das machen. 

 

Wenn der deutsche Fußball tatsächlich neben den mit Richtlinienkompetenz ausgestatten Präsidenten Bernd Neuendorf einen „Anführer“ in der Chefetage benötigt und wenn tatsächlich niemand da ist, der die dafür erforderliche Autorität und Erfahrung mitbringen kann, dann sollten wir über diese seltsame Führungskonstellation nachdenken. Ich bin bislang allerdings nicht überzeugt. 

 

Sammers Ideen 

Sammers unüberhörbarer Ruf nach einem „Anführer“ wird bei all denjenigen Unterstützung finden, die verunsichert sind und keinen Mut in Richtung Zukunft aufbringen können. Seine Strategie ist altbekannt: Forderungen nach einer „starken Hand“ sind auch aus der Wirtschaft und Politik bekannt. Immer dann, wenn es nicht rund läuft und die Zeit knapp wird, sehnen sich viele von uns nach einem Macher, der alles wieder in die richtige Richtung lenken wird. 

 

Mich irritiert sowas, denn ich schätze das Gegenmodell: Ich rate daher, auf Selbstverantwortung, Anpacken und den transparenten Wettstreit um die besten Ideen, Konzepte und Herangehensweisen zu setzen. Es sei denn wir könnten einen wahrhaften Fußballphilosophen an die Spitze der Bewegung stellen. Jemanden der über jeden Zweifel erhaben ist und der ganz sicher das weltweit beste Konzept erdenken und umsetzen kann. Alles andere würde – wegen fehlender Variation und Alternative – unweigerlich in die nächste Krise führen. 

 

Inhaltliche Schwerpunkte 

Ob Sammer oder sein potenzieller Azubi Sami Khedira diese Qualitäten verkörpern, sei einmal dahingestellt. Aber Sammer beginnt seine fußballbezogene Analyse mit einem wahrhaften Fußballphilosophen. Er beobachtet Pep Guardiola und stellt in seiner Auswertung fest, dass dieser sich als Trainer weiterentwickelt habe. Er habe mit dem Ballbesitz-Fußball nach wie vor eine klare Spielidee, die er aber durch die Betonung des körperlichen Einsatzes weiterentwickelt habe. In den Worten Sammers: 

 

„Aber haben Sie sich jetzt mal seine Mannschaft im letzten Champions League-Finale angeschaut? Ich habe während des Spiels gesagt: So wie Manchester haben früher die Deutschen gespielt.“ 

 

Diejenigen, die heute in Deutschland niveauvollen Fußball spielen oder Mannschaften trainieren, werden spätestens an dieser Stelle skeptisch ob Sammer mit seinem Vergleich zur guten alten Zeit richtig liegt. In einem anderen Punkt hingegen mag er wiederum überzeugen, denn er erkennt, dass Guardiola seinen Spielern weitaus mehr Verantwortung überlässt, als das früher der Fall war. Auch dieser Punkt wirkt auf Sammer vorbildlich. Er möchte es mit dem Thema „Hierarchie“ verbinden und fordert den Bundestrainer auf, eine Achse aus mindestens drei Führungsspielern festzulegen. Genauso wie er das angeblich 2012 bei den Bayern mit Neuer, Schweinsteiger und Lahm getan hat, um eigenwillige Stars wie Ribéry und Robben in das Mannschaftsgefüge einzubinden. Mit Blick auf die Niederlage im Spiel gegen Japan bei der WM in Katar begründet Sammer seine Auffassung wie folgt: 

 

„Was macht jetzt der Trainer - aber auch: Was machen die Spieler? Wo sind auf dem Platz jetzt die Führungsspieler? Welche Spieler verhindern, dass sich die Unsicherheit ausbreitet? Dafür braucht es Typen, die sich in solchen Momenten verantwortlich fühlen und Einfluss nehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Trainer Führungsspieler benennen muss. Nur leider hat der deutsche Fußball auf Hierarchien viel zu lange keinen Wert mehr gelegt, es hieß doch jahrelang immer: flache Hierarchien! Und das ist falsch.“ 

 

Die Forderung nach Führungsspielern ist immer gut und wirkt in der Regel als positiver Selbstläufer. Es fragt sich nur ob man diese Spieler benennen und in solche Rolle schubsen muss, oder ob man nicht lieber innerhalb des Mannschaftsgefüges einen Konkurrenzkampf um diese Posten entfacht sollte. Ich denke, an dieser Stelle widerspricht sich Sammer selbst. Man kann von den Spielern nicht mehr Übernahme von Verantwortung erwarten und gleichzeitig aber die Führungsrollen von außen und autoritär festlegen. Man muss die Nationalspieler so in Verantwortung bringen, so dass sie das von selbst hinbekommen. 

 

Gesetz des Leistungssports & „Deutsche Tugenden“ 

Ein weiterer Kernpunkt in Sammers Fußballphilosophie ist die Orientierung an der „guten alten Zeit“ und dem, was viele Fußballexperten unter „deutschen Tugenden“ verstehen. 

 

„Die Wahrheit ist: Der deutsche Fußball hat komplett seine Identität verloren. Unsere Tugenden waren unter anderem doch immer: Wir waren körperlich sehr stark, wir waren top in „Eins-gegen-Eins-Duellen“, egal ob offensiv oder defensiv. Und wir wollten immer gewinnen. Aber plötzlich haben wir uns für diese deutschen Tugenden fast geschämt! Rumpelfußball, hieß es auf einmal.“ 

 

Sammer verweist in diesem Zusammenhang auf eine ganze Reihe deutscher Fußballspieler, von Franz Beckenbauer bis Horst Hrubesch. Sie alle haben die deutschen Tugenden verkörpert. Gleichzeitig betont er aber auch die Leistungen von Jogi Löw und seinem Team, das sich von der Linie des Rumpelfußballs gelöst und damit neue Akzente gesetzt hat. Spielerische Elemente wurden betont und damit der Grundstein für den WM Titel 2014 gelegt. 

 

„Das war wichtig! Aber das Gesetz des Leistungssports besagt, dass die Entwicklung nicht stehen bleibt und die großen Leitlinien deshalb alle zwei, drei Jahre überprüft und, wenn nötig, angepasst werden müssen. Und das haben wir überhaupt nicht mehr gemacht. Deshalb stehen wir jetzt da, wo wir stehen. 

 

Wo immer dieses Gesetz festgeschrieben steht: Nach meinem Dafürhalten findet die angesprochene „Entwicklung“ an jedem Tag und in jeder Trainingseinheit statt. Sie wird von verschiedenen Spieler- und Trainertypen auch unterschiedlich wahrgenommen und verstanden. Deshalb machen Freiheiten in der Entwicklung von Trainingskonzeptionen Sinn. Und auch hier: Es würde unserer Fußballkultur guttun, wenn auch auf dieser Ebene verschiedene Vereine und Trainer um den besten Fußball streiten und konkurrieren. Am Ende liegt die Wahrheit tatsächlich auf dem Platz, und das beste Konzept wird nicht am Reisbrett entwickelt und in seinen Leitlinien von oben nach unten an alle anderen weitergegeben und zur Entfaltung gebracht, sondern im Wettbewerb gut ausgebildeter Trainer entwickelt. 

 

Fazit 

Die deutlich vorgetragene Kritik von Matthias Sammer tut dem deutschen Fußball gut. Damit hat er in der Tat eine handfeste Alternative zum bisher eingeschlagenen Weg im Umgang mit der Analyse des Misserfolgs und der darauf aufbauenden Neuausrichtung der Nationalmannschaft auf den Weg gebracht. 

 

In Verbindung von der Forderung nach einem starken Anführer mit der Ausrichtung des deutschen Fußballs an Leitlinien, die alle zwei bis drei Jahre neu justiert werden, erinnert Sammers Fußballphilosophie ein stückweit an Zentralismus und Planwirtschaft. Hinsichtlich der Spieler strahlt Sammer Vertrauen aus und setzt auch mit dem bei Guardiola abgeschautem Aspekt beim Thema „Verantwortungsübernahme“ auf eine fortschrittliche, pädagogisch durchdachte Konzeption des Trainings. 

 

In taktischer Hinsicht gefällt mir sein Vorschlag, das Spiel sicherer anzulegen, um der offenkundig verunsicherten Mannschaft mehr Halt zu geben. 

 

Solange keine besseren Ideen geliefert werden sollte der DFB den Weg frei machen und Sammer mit der nötigen Macht ausstatten. 

 

Vielleicht ergibt es sich aber auch, dass nun ein offener Diskurs über die beste Fußball- und Führungsstrategie entflammt. Nicht hinter den verschlossenen Türen einer ominösen Taskforce, sondern auf Augenhöhe mit all den Experten, die in den zurückliegenden Jahren Ausrufezeichen im deutschen Fußball gesetzt haben. Bis dahin können wir hoffen, dass sich Bundestrainer Hansi Flick vom Vorstoß Sammers inspirieren oder herausfordern lässt. Nach den beiden Länderspielen gegen Japan und Frankreich sollten wir mehr wissen. 

 

Quellen 

Süddeutsche Zeitung vom 02.09.2023; Seite 35. Interview von Moritz Kielbassa und Christof Kneer mit Matthias Sammer: „Seien wir doch mal ehrlich: Wir liegen am Boden!“ 

 

Harald Lange: Fußballfloskeln & Kaffeeklatsch: Völler und Neuendorf im ZDF-Sportstudio. Kolumne „Die Wahrheit liegt auf dem Platz“, (Nr. 57) Torgranate vom 15. 02. 2023 

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